Prof. Jörg Breiding im Interview: Was den Knabenchor Hannover seit 75 Jahren so einzigartig macht

07. August 2025 | von Roksana Leonetti

Seit über zwei Jahrzehnten prägt Prof. Jörg Breiding als künstlerischer Leiter den Klang und die Ausrichtung des Knabenchors Hannover. Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums spricht er im Interview über besondere Momente der Chorgeschichte, pädagogische Überzeugungen und seine persönliche Verbundenheit mit diesem außergewöhnlichen Ensemble.

Interview mit einem Mitglied des Knabenchors als Aufmacherbild Nils Ole Peters, Knabenchor Hannover

Der Knabenchor Hannover feiert in diesem Jahr sein 75-jähriges Bestehen. Was bedeutet dieses Jubiläum für Sie persönlich?  

Ich empfinde große Freude und Dankbarkeit darüber, dass dieser herausragende Chor und die damit verbundene Bildungseinrichtung seit nunmehr 75 Jahren auf höchstem Niveau junge Menschen musikalisch ausbildet und sein Publikum begeistert. Ich bin sehr stolz und dankbar, mit diesem wunderbaren Chor seit über 20 Jahren arbeiten zu dürfen.

Welche Meilensteine oder besonderen Momente aus der Chorgeschichte sind für Sie unvergesslich?  

Natürlich denke ich bei dieser Frage sofort an Aufführungen großer Meisterwerke wie der h-Moll-Messe oder dem Weihnachtsoratorium von Johann Sebastian Bach, Monteverdis Marienvesper oder an Konzerte mit herausragenden Partnern wie der NDR Radiophilharmonie, London Brass oder Nils Landgren mit seiner Band. Das sind prägende und unvergessliche Erlebnisse, die ich mit dem Knabenchor teilen durfte.

Ein ebenso existenzieller Meilenstein war die Inaussichtstellung der Bundesförderung zur Mitfinanzierung der Sanierungsarbeiten für unser neues Probendomizil: dem Campus Knabenchor. Diese Unterstützung ist ein entscheidender Schritt in die Zukunft und sichert die langfristige Weiterentwicklung des Chores.

Wie hat sich der Knabenchor Hannover seit seiner Gründung entwickelt – musikalisch, strukturell und kulturell?  

Der Knabenchor wurde 1950 vom damaligen Musikstudenten Heinz Hennig gegründet und hat sich seither auf allen Ebenen kontinuierlich weiterentwickelt – zu einem Spitzenensemble von internationalem Renommee. In den vergangenen Jahren ist es uns gelungen, den Chor durch gezielte Maßnahmen in den Bereichen Öffentlichkeitsarbeit, Marketing und Konzertakquise noch professioneller aufzustellen. Unser Ziel war und ist es, den Knabenchor als exzellente Bildungseinrichtung und Spitzenensemble seines Genres in Hannover und der klassischen (Chor)Musikszene zu positionieren.

Die fortschrittliche Entwicklung der letzten Jahre ist keineswegs selbstverständlich, denn wir verfügen nicht über große Budgets. Vieles wird durch ehrenamtliches Engagement sowie durch die großzügige Unterstützung von Förderern und Spendern ermöglicht. An dieser Stelle danke ich allen Unterstützerinnen und Unterstützern der vergangenen Jahre ausdrücklich!

Ein wichtiger neuer Schwerpunkt unserer Arbeit ist die intensive Nachwuchsgewinnung im Rahmen vielfältiger Education-Projekte, die wir unter anderem in langjähriger Kooperation mit der NDR Radiophilharmonie mit großem Zuspruch realisieren. Wir gehen in Kindergärten und Grundschulen, veranstalten moderierte Kinder- und Familienkonzerte und werden bald auch Eltern-Kind-Singen anbieten.

Gerade in einer Zeit, in der gemeinsames Musizieren und Singen in Familien nicht mehr selbstverständlich ist, sind solche Angebote von existenzieller Bedeutung. Sie helfen, bei jungen Menschen frühzeitig die Begeisterung für klassische Musik und insbesondere das Singen zu wecken – und damit auch die Zukunft unseres Chores zu sichern.

Dirigent beim Interview mit Knabenchor, klassische Musikaufführung
Prof. Jörg Breiding beim Dirigieren: konzentriert, präzise und ganz im Klang versunken. Foto: Nils Ole Peters, Knabenchor Hannover

Gibt es ein Konzert, eine Reise oder ein Erlebnis, das als „legendär“ in die Geschichte des Chores eingegangen ist?

Zunächst denke ich bei dieser Frage an Konzerte, Reisen und große Auszeichnungen – wie den ersten Preis beim Deutschen Chorwettbewerb, den Deutschen Schallplattenpreis oder den Echo Klassik für die Weltersteinspielung der Motetten von Andreas Hammerschmidt. Das sind zweifellos herausragende Meilensteine in der Geschichte des Knabenchores.

Wenn man aber die Sänger fragen würde, dann sind es darüber hinaus ganz viele lustige, eindrucksvolle und besondere Momente, die jeder Einzelne während seiner Zeit im Knabenchor erlebt hat, die weit über das Musikalische hinausgehen – sei es während der wöchentlichen Proben oder auf Konzertreisen fern der Heimat.  

Wie wählen Sie heute das Repertoire aus? Hat sich das musikalische Profil des Chores im Laufe der Jahrzehnte verändert?  

Wir möchten unser Publikum mit abwechslungsreichen und berührenden Programmen immer wieder neu begeistern. Gleichzeitig ist es die Aufgabe unserer „Chor- und Singschule Knabenchor Hannover“, den jungen Sängern grundlegende stimmliche Fähigkeiten sowie ein fundiertes Repertoire an Chorliteratur zu vermitteln.  

Daher sind bedeutende Chorwerke von Renaissance bis zur Romantik ein fester Bestandteil unseres Programms. Man darf nicht vergessen: Die meisten Kinder und Jugendlichen hören in ihrer Freizeit keine Chormusik. Für viele ist der Knabenchor der erste und oft einzige Zugang zu diesem Repertoire. Wir führen sie behutsam und fundiert an diese Werke heran. Dabei gelingt es eigentlich immer, die Jungs von der Faszination und Schönheit der Chormusik zu begeistern.

Was macht den Klang oder die Arbeitsweise des Knabenchors Hannover aus – im Vergleich zu anderen Chören?  

Der Knabenchor Hannover zeichnet sich durch einen klaren, transparenten und zugleich warmen homogenen Klang aus – ein Klangbild, das durch kontinuierliche Stimmbildung und kompetente pädagogische Arbeit erreicht wird. In unseren Interpretationen beziehen die historisch orientierte Aufführungspraxis mit ein und versuchen stets eine natürliche Sprachgestaltung umzusetzen.  

Knabenchor bei einem Auftritt mit Orchester in einem prunkvollen Konzertsaal
In konzentrierter Atmosphäre formen die jungen Sänger den unverwechselbaren Klang des Knabenchors. Foto: Nils Ole Peters, Knabenchor Hannover

Ab welchem Alter singen die Jungen bei Ihnen mit, und wie erleben Sie deren Entwicklung im Chor?

Jungen beginnen bei uns im Optimalfall bereits im Alter von etwa fünf Jahren. Dieser frühe Beginn ist wichtig, denn das Zeitfenster bis zum Stimmwechsel ist kurz. In dieser begrenzten Phase wollen wir den jungen Sängern ermöglichen, ihre Stimme zu entwickeln und anspruchsvolle Chorliteratur mit Freude singen zu können.

Gerade das Singen mit Jungs ist etwas ganz Besonderes – klanglich einzigartig und emotional berührend. Deshalb ist es entscheidend, die Konzertsänger von morgen frühzeitig zu entdecken und behutsam aufzubauen.

Die Nachwuchsgewinnung ist für uns existenziell, denn ohne Sänger gibt es keinen Chor. Aus diesem Grund investieren wir viel in unsere Education-Projekte.  

Unsere Chormitglieder können wir nicht zum Mitmachen verpflichten - deshalb ist es umso wichtiger, dass sie gerne zu den Proben kommen, spürbare Fortschritte machen und motiviert sind, konzentriert zu arbeiten. Wir wählen Stücke aus, die ihnen Freude bereiten und sie musikalisch erfüllen. Auch der Spaß in den Pausen mit Freunden gehört für uns dazu.  

Diese positive Atmosphäre und Erfahrung bilden die Grundlage für die nächsten Generationen unseres Chores.

Was lernen die Jungen im Chor über die Musik hinaus? Wie fördern Sie Gemeinschaft, Disziplin und Freude am Singen zugleich?

Die Sänger erfahren eine intensive musikalische Ausbildung und werden zugleich in ihrer persönlichen Entwicklung begleitet. Das Miteinander – sowohl musikalisch als auch menschlich – ist eine zentrale Säule unserer Chorarbeit.

Was das Singen im Knabenchor für jeden einzelnen jungen Sänger bedeutet, kann man oftmals erst mit einigen Jahren Abstand genau beschreiben. Es ist viel mehr als das gemeinsame Einstudieren von Chorwerken, das Erlernen von Gesangstechnik, musikalischen Ausdrucksmitteln und die Mitwirkung in einem traditionsreichen Knabenchor. Viele der Sänger finden Freunde fürs Leben und erinnern sich noch gern an gemeinsam Erlebtes und prägen jeden einzelnen Charakter ganz individuell.  

Gerade in den heutigen schnelllebigen Zeiten ist es schon ein Wert für sich, dass sich junge Menschen über längere Zeiträume konzentriert und fokussiert mit einer Sache zu beschäftigen, ohne permanent auf das Handy zu schauen. Die Chormitglieder lernen Verantwortung für die gemeinsame Leistung und die jeweils Jüngeren zu übernehmen. Durch die gemeinsame musikalische Arbeit erfahren Sie, dass herausragende Erfolge nur durch Disziplin, kontinuierliches Üben und gegenseitige Unterstützung erreicht werden können. Und dabei ist ein gelungenes Konzert nie eine Leistung von einzelnen Solisten, sondern immer eine Teamleistung aller Chormitglieder gemeinsam mit ihrem Dirigenten.

Somit lernen alle Chormitglieder in einer prägenden Phase des Heranwachsens so viel: es ist eine Schule fürs Leben.

Ein Chor mit Zukunft

Was vor 75 Jahren als mutiges Projekt eines Musikstudenten begann, ist heute eine Institution mit internationalem Ruf und dennoch voller Lebendigkeit, Entwicklung und Perspektive. Prof. Jörg Breiding gelingt es, Tradition und Moderne zu verbinden, junge Talente zu formen und ein Klangbild zu schaffen, das berührt. Der Knabenchor Hannover bleibt damit nicht nur musikalischer Botschafter der Stadt, sondern auch ein Ort, an dem aus Stimmen Charaktere wachsen.