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Dr. Erdmann und die zwei Flaneure

24. November 2021

Wie kann man sich dem Berlin der 1920er-Jahre nähern? Der hannoversche Buchautor
Gerd-Rüdiger Erdmann, hauptberuflich Psychiater mit eigener Praxis, ist von der Epoche und ihrer enormen geistigen und kreativen Leuchtkraft fasziniert. In seinem literarischen Werk gelingt ihm eine lebendige Annäherung mittels sauberer Recherche, Leidenschaft und großem Besteck. In der „Insel“ stellte er sein Werk jetzt einem exklusiven Kreis geladener Gäste vor und bot ihnen auch kulinarisch eine Zeitreise ins Berlin der Zwanziger Jahre.
Text: Patricia Chadde Fotos: Lorena Kirste
Unter dem Titel „Zwei Flaneure in Berlin“ spürt Erdmann der produktiven Freundschaft zwischen Rowohlt-Lektor Franz Hessel und dem Philosophen Walter Benjamin nach. Im November 2019 veröffentlichte der Verlag Berlin-Brandenburg das 120 Seiten starke Werk Erdmanns und traf den literarischen Geschmack der Leserschaft. „Mit den Flaneuren streift man gerne durch die kulturelle Blütezeit des Berliner Westens – das Buch ist ein Steady Seller“, sagt Verleger André Förster.
Rund um den Kurfürstendamm gab es Theater, Kneipen, Cabarets und Tanzpaläste. Hier pulsierte das Nachtleben, wirkte die kreative Szene der Stadt: mittendrin Hessel und Benjamin. Hochfliegende Gedanken, Briefe und Übersetzungen der beiden Autoren, die im Kopf rasend schnell, aber zu Fuß nur mäßig flink gewesen sein sollen, sind in Schriftform überliefert. Ihre Freundschaft, die 1923 begann, prägte beider Leben und endete mit Benjamins Suizid 1940. Ihre gemeinschaftliche Übersetzung von Marcel Prousts Werk „À la recherche du temps perdu“ ist bis heute das fassbare Ergebnis ihres Zusammenwirkens.
Für diese Gourmet-Zeitreise hatte Erdmann Ende September Familie, Freunde, Kollegen und Bekannte aus allen Teilen der Republik zu einer Erkundung des geschmackvollen Reiches der Weimarer Republik eingeladen. Auch Buchverleger André Förster kam in das hannoversche Restaurant Insel, um sich neuen Speise-Erfahrungen hinzugeben.
Im Deutschen lautet der Proust-Buchtitel „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“, und man kann ergänzen, dass ja auch Klang, Geruch und weitere flüchtige Eigenschaften dieser Epoche vollendete Vergangenheit sind. So nahm Zwei-Sterne-Koch Johannes Feinhals die Herausforderung an, die Sinnlichkeit und den Geschmack der 1920er-Jahre in sieben unterschiedlichen Menügängen für einen kulinarisch-literarischen Abend in der „Insel“ am Maschsee zu reflektieren.

Spitzenkoch Feinhals recherchierte in Romanen

In 20 Berlin-Rundgänge war Erdmann Persönlichkeiten wie Mascha Kaléko, Marlene Dietrich oder Bertholt Brecht gefolgt. Doch wo holte sich das Partyvolk die Grundlagen für ausschweifende Unternehmungen? Man kehrte bei Max Schlichter ein. Als Koch gewann der gebürtige Calwer schon 1914 die Goldmedaille bei der internationalen Koch-Ausstellung in Brüssel, befehligte später die Küchenbrigade eines Grandhotels in französischer Sprache und eröffnete schließlich eine eigene Gastwirtschaft. Leider sind Schlichters Rezepte verschollen, nur eine Speisekarte existiert noch. So forschte Johannes Feinhals nach Klassikern der Berliner Schank- und Speisewirtschaften, wälzte Kochbücher und forschte in Romanen.
Ganz im Stil von Hanna Höchs Collagen veränderte der Spitzenkoch aber die Zusammenstellung der Zutaten wie Kartoffeln, Graupen, Porree, Rote Beeten, Wirsing, Eisbein und Havel-Zander. Wie sich Maitre de Rotisseur Feinhals dabei das Aussehen des Menüs vorstellte, hielt er in Skizzen fest. Schon das verdiente den Titel Augenschmaus und sicherte die erfolgreiche Unterstützung von Koch Alexander Ekes und dessen Insel-Küchenteam.

Kulinarische Zeitreise

So ließen Erdmann und Feinhals die funkelnde Metropole, das „Industriegebiet der Intelligenz“, wie Erdmann es gerne nennt, auch auf kulinarische Weise erstrahlen. Für die Beamtenstippe, eigentlich ein „Armeleuteessen“, verwendete Feinhals ganz klassisch Stampfkartoffeln, geschmelzte Zwiebeln und ausgelassenen Schinkenspeck. Mittels Dijon-Senf, einem gebratenen Wachtel-Spiegelei und einem Topping aus gebackenem Rucola verwandelte er die schlichte Stippe in eine Delikatesse.
Es waren nur wenige Jahre, in denen Berlins Kultur und Literatur erblühten. Der Machtantritt der Nationalsozialisten bedeutete für Hessel, Benjamin und viele weitere Verfolgung und Exil. Doch für diesen einen Abend in der Insel gelang Erdmann und Feinhals eine beeindruckende „Auferstehung“ von Max Schlichters Handwerk. Die Hommage an den legendären Koch ließ die Goldenen Zwanziger Berlins für einige Stunden kulinarisch aufleuchten. Die Gäste waren hingerissen.
Eine Wiederholung ist für Erdmann und Feinhals dabei nicht ausgeschlossen.

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