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Fliegende Worte

31. August 2023

Das kleine Hildesheim hat ein großartiges Literaturhaus: eine alte Pilgerkirche mitten in der Stadt mit einem weltläufigen Programm.

Text: Karen Roske, Fotos: Frederik Preuschoft, Omar Zyami, Stella Essmann

Direkt an der Fußgängerzone steht die Jakobikirche, zwischen dem Kaufhaus mit der Horten-Fassade und dem historischen Marktplatz. Der kleine Kirchplatz liegt drei Stufen erhöht, dort lehnt sich eine Bude mit Schmalzkuchen und Crêpes ans alte Gemäuer. Auf den Stufen sitzen bei schönem Wetter Passanten mit Einkaufstüten oder auch solche mit offenen Bierflaschen in der Hand. St. Jakobi wurde vor über 500 Jahren als Pilgerkirche erbaut: Sie gehörte zu den zahlreichen Jakobus-Kapellen, die alle Zweige des berühmten Jakobswegs säumen. Dann war sie die Pfarrkirche der Hildesheimer Altstadt, wurde im 16. Jahrhundert protestantisch und nach dem Zweiten Weltkrieg als erste Kirche in der zerstörten Stadt wieder aufgebaut.
Heute hat sie keine eigene Gemeinde mehr, gehört aber noch zum Kirchenkreis Hildesheim-Sarstedt. Die alte Pilgerkirche lädt nun Reisende im übertragen Sinne ein: Kulturfreunde und Kreative, Geschichtenerzählerinnen und Lesungspublikum, Bücherwürmer und Sinnsuchende. Seit 2014 beherbergt sie das Literaturhaus St. Jakobi Hildesheim. Als Kulturkirche soll sie ein Zwischenraum, ein Impulsort und eine Raststätte sein. Sie hatte schon viele hochkarätige Gäste, zum Beispiel Doris Dörrie, Cornelia Funke, Ulrich Noethen, Peter Lohmeyer, Christine Westermann oder Navid Kermani.

Mit der Rakete in den Himmel

„Wir wollen möglichst viele Zugänge zur Literatur schaffen“, sagt Sarah Sophia Patzak, seit 2021 Intendantin in St. Jakobi. Deshalb veranstaltet sie neben klassischen Wasserglaslesungen oft experimentelle Formate, szenische Lesungen, Werkstattgespräche, Erzählabende oder kollaboratives Schreiben. „Wichtig ist, dass die Abende moderiert werden“, findet die 34-jährige Kulturwissenschaftlerin. Sie hat beobachtet: „Auch wenn es keine gemeinsame Diskussion gibt, bleiben anschließend immer noch einige Gäste an der Bar und sprechen im kleineren Kreis.“
Im überschaubaren, weiß getünchten Kirchenschiff haben 50 bis 199 Gäste Platz, je nachdem wie die modernen weißen Stühle stehen und ob die Empore geöffnet wird. Über deren dunkelroter Holzbrüstung ist noch die Orgel zu sehen, auf der zuweilen Musikschüler üben. Die Bar ist ein kleiner Kiosk an der Seitenwand zwischen den hohen gotischen Fenstern. Und über der schlichten Bühne schwebt eine überdimensionale Rakete, die alle Blicke auf sich zieht: Sie ist das Bühnenbild zum aktuellen Spielzeitmotto „Morgen“.
Aus den Pappmaschee-Triebwerken der grob gezimmerten Rakete fällt goldenes Licht herab. Die Spitze scheint das Kirchendach zu durchbohren, um in den Himmel zu fliegen. Angelehnt an die sagenhafte Rakete Saturn 5 von der Mondlandung 1969, geht es um aktuelle Zukunftsfragen in der Literatur. So hat der Klimafolgenforscher Harald Welzer beispielsweise aus seinem aktuellen Buch „Nachruf auf mich selbst“ gelesen, umrahmt von junger „Climate Fiction“ aus dem Hildesheimer Studiengang Literarisches Schreiben.

Schönheit und Selbsterkenntnis

Die Universität Hildesheim ist ein wichtiger Kooperationspartner der Literaturkirche, die in der Stadt überhaupt gut verankert ist. Sie arbeitet mit Buchläden, Kunstschaffenden und kulturellen Netzwerken zusammen und wird vom benachbarten noblen Van der Valk Hotel unterstützt.
Am 11. Mai findet hier der Auftakt zum Hildesheimer Prosanova-Festival statt, dem bundesweit größten Event für junge, deutschsprachige Gegenwartsliteratur. Der Abend wird aufgezeichnet und im Sonntagsstudio auf NDR Kultur ausgestrahlt.
Im Juni ist der Höhepunkt im Programm eine Lesung von John von Düffel, der im Gespräch mit der Theologin Julia Koll sein neues Buch „Das Wenige und das Wesentliche“ vorstellt. Hier sieht Sarah Patzak ein gutes Beispiel dafür, wie religiöse Traditionen in der weltlichen Kultur weiterwirken: Der Schriftsteller hat das katholische Stundenbuch zur Vorlage genommen, eine mittelalterliche Gebetshilfe für bestimmte Stunden des Tages. Seine Thesen für ein minimalistisches und achtsames Leben kreisen um moderne Askese, Schönheit und Selbsterkenntnis – ohne Gebet und Gott.
Zum Team des Literaturhauses gehört aber auch eine Pastorin: Als „Priestess in Residence“ lädt sie zu kulturellen und spirituellen Inspirationen ein. Daneben gibt es in der laufenden Spielzeit noch Abende mit dem Schriftsteller und Neue-Deutsche-Welle-Musiker Thomas Meinecke sowie mit Josefine Sonneson und ihrem Debütroman „Stolpersteine“ – laut Süddeutscher Zeitung „ein literarisches Ereignis“. Bis Mitte Juli hält das Programm noch einige gute Gründe bereit, um für einen besonderen literarischen Abend nach Hildesheim zu fahren.

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