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Rezension: Die Ärtztin (c) Kerstin Schomburg

Die Ärztin – Schauspiel mit Tiefgang und Unterhaltung

19. Februar 2023

Einfach nur zuschauen? Das Schauspiel Hannover lädt mit der Deutschen Erstaufführung von Robert Ickes Schauspiel „Die Ärztin“ eher zur Selbstbespiegelung ein – auf tragikomische Weise.

Text: Jörg Worat, Fotos: Kerstin Schomburg/Schauspielhaus

Wir alle würden wohl gern behaupten können, völlig frei von Vorurteilen zu sein und andere Menschen niemals nach Schubladendenken zu beurteilen. Aber wäre das, Hand aufs Herz, die Wahrheit? Eine Theateraufführung im Schauspielhaus beleuchtet dieses Thema zugleich tiefsinnig, anrührend und unterhaltsam – die Premiere von Robert Ickes Schauspiel „Die Ärztin“ hatte ihre ganz eigene Ausstrahlung.

Ein tragischer Schauspiel-Auftakt

Die Ausgangssituation könnte nicht tragischer sein. Wir erfahren, dass Professorin Ruth Wolff, Mitbegründerin und Leiterin eines medizinischen Instituts, einen Notfall aufgenommen hat: Die 14-jährige Emily liegt nach einem Abtreibungsversuch im Sterben. Obwohl es sich bei der Klinik um ein Alzheimer-Institut handelt, fühlt sich die Professorin verantwortlich: „Manchmal, und lassen Sie sich davon nicht völlig aus der Bahn werfen, behandeln Ärzte Patienten“, bürstet sie einen verständnislosen Kollegen ab – dieser unverblümte Sarkasmus wird im weiteren Verlauf zu ihrem Markenzeichen.

Die Szene spielt sich vor dem Krankenzimmer ab, und sie verschärft sich, als Pater Jacob erscheint. Er soll im Auftrag von Emilys Eltern, die selbst außer Landes sind, dem Mädchen die Letzte Ölung erteilen. Doch Ruth Wolff verweigert ihm den Zutritt, weil Emily nicht weiß, dass ihr Tod bevorsteht, was ja das Erscheinen des Priesters sofort klar machen würde. Nun entwickelt sich eine zunehmend erregte Diskussion über den Seelenfrieden des Mädchens, wobei Ärztin und Pater je nach Standpunkt ihre Argumente ins Feld führen. Die Situation eskaliert, als es schließlich zu einem physischen Kontakt zwischen den Streitenden kommt, dessen genaue Ausprägung indes nicht sichtbar wird. Emily stirbt, bevor der Priester ihr Zimmer betreten kann.

Schauspiel über Identität und Verwirrung

Den Plot hat der britische Autor Icke Arthur Schnitzlers „Professor Bernhardi“ entnommen, und er nennt sein Stück eine „sehr freie“ Bearbeitung. Es ist in der Tat weit mehr als eine Nacherzählung. Mit einem ganz besonderen Dreh, denn das, was wir sehen, stimmt nicht unbedingt mit dem überein, was gesagt wird. Dass Rollen gegen das Geschlecht besetzt sind, ist das Publikum bei der Intendanz von Sonja Anders gewohnt, die schon kurz nach ihrem Amtsantritt mit einer „Platonowa“ nach Anton Tschechow aufwartete. Hier allerdings sind solche Identitäts-Verschiebungen von Autor Icke ausdrücklich gefordert, und er setzt noch eins drauf, indem etwa der Priester, der von einem weißen Schauspieler dargestellt werden soll, später als schwarz bezeichnet wird: „Das Stück“, schreibt Icke, „ist so konzipiert, dass das Publikum die Figuren überdenken muss, sobald ein Aspekt ihrer Identität offengelegt wird.“

Eine Zeitungsschlagzeile zur eingangs beschriebenen Situation könnte also etwa lauten: „Jüdische weiße Ärztin verweigert katholischem schwarzen Priester Zugang zu Sterbender“. Das wäre faktisch korrekt, würde aber womöglich allerlei Assoziationen auslösen: Geht es hier um Konflikte in Sachen Geschlecht, Hautfarbe oder Glauben? Geht es um Spiritualität versus Naturwissenschaft?

Der Letztgenannten hat sich jedenfalls Ruth Wolff verschrieben, die nichts weiter sein will als eben „die Ärztin“. Insofern ist ihr zunächst auch un­verständlich, dass der Vorfall nicht schnell ad acta gelegt werden kann, zumal er Kreise in den Social Media zu ziehen beginnt und Emilys Vater einigen Einfluss hat. Dessen leibhaftiger Auftritt geht übrigens voll an die Nieren: Hajo Tuschy spielt sich hier in einer Mischung aus Verzweiflung und Wut die Seele aus dem Leib – Regisseur Stefan Pucher hat die richtige Balance zwischen Intellekt und Emotion gefunden.

Schwungvoller Auftritt im Schauspiel

Er hat Stéphane Laimé zudem ein eher unterkühltes Bühnenbild bauen lassen, und wenn es auch zum Einsatz von Live-Videos kommt, Christine Grant zwischendurch auf Rollerblades über die Bühne kurvt, strotzt der Abend nicht vor Action. Die Sprache steht klar im Vordergrund, eine höchst sorgfältig gebaute Sprache, bei der sogar genau vorgegeben ist, wer wem wann und wie ins Wort fällt. Regisseur Pucher hat sehr gut daran getan, nah am Text zu bleiben und auf großen Eigenbau zu verzichten.

Die intelligenten Verwirrspiele um Identitäten setzen sich fort. Ruth Wolff ist mit Charlie liiert, ein geschlechtsneutraler Name, hinter dem sich aber sichtbar eine Frau verbirgt. Die Ärztin wäre also lesbisch – verändert das unsere Einstellung zu ihr, und wenn ja, in welcher Hinsicht?

Finale: Abstrakt und Humorvoll

Schließlich kommt es zum großen Finale in Gestalt einer Talkshow. Hier treten unter anderem auf: ein Pastor, ein Dozent für jüdische Geschichte, ein „Aktivist mit dem Schwerpunkt post-koloniale Theorie“ sowie die „Leiterin einer nationalen Aktionsgruppe zur Bekämpfung unbewusster Vorurteile“, und alle haben sich vorgenommen, Ruth Wolff durch die Mangel zu drehen.­ Jeder und jede versucht, sie, die weder eine Täter- noch eine Opferrolle einnehmen will, als Blaupause für die jeweilige Gruppenzuordnung zu benutzen. Diese Passage mit ihren fast schon verschwenderisch aufblitzenden Dialogen reizt auch dann, wenn sie eigentlich gar nicht komisch ist, extrem zum Lachen – menschliche Verbohrtheit kann in ihrer Absurdität halt erstaunliche Ausmaße annehmen.

Der Ausgang der Geschichte wird hier natürlich nicht verraten. Wenn es an diesem Abend etwas zu kritisieren gibt, dann höchstens den Nachklapp mit einem weiteren Gespräch zwischen Ärztin und Priester: Hier wird aus dem „well-made play“ ein „too well-made play“ – obwohl, oder vielleicht auch gerade weil, hier eine kluge Pointe auf die andere folgt, wirkt dieser Teil ein wenig wie angeklebt.

Ein spannender Schauspiel-Abend

Das ist Klagen auf hohem Niveau? Sicherlich. Ein spannender Abend mit einem höchst kompakten Ensemble: Nikolai Gemel, Christine Grant, Lukas Holzhausen, Wolf List, Miriam Maertens, Nicolas Matthews, Viktoria Miknevich und Hajo Tuschy zeigen durch die Bank, was echtes Timing ist. Und Johanna Bantzer schafft es in der Titelrolle, gleichzeitig borniert, bewundernswert und verletzlich zu wirken – ganz große Klasse.

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