Im Musical „Chicago“ zeigt Roxie Hart, wie Skandale und Selbstinszenierung zu Promi-Status führen. Eine Frage ist dabei so aktuell wie nie: Wer würde nicht über eine Leiche gehen, um berühmt zu werden? Roxie Hart tut es – wenn auch zunächst nicht beabsichtigt. Sie erschießt ihren Liebhaber im Affekt, landet im Knast. Und wird dank ihres Anwalts zur Berühmtheit, die dem Todesurteil entgeht. Das alles spielt in „Chicago“. Es könnte aber überall spielen. Überall, wo ein junges Mädchen wieder und wieder ein Selfie postet, aber seinen Durchbruch und ein wenig Promi-Status erst bekommt, wenn etwas wirklich Schreckliches geschieht.
Das Musical „Chicago“ hatte an der Oper Premiere – und es verspricht zum Erfolgshit zu werden. Denn es hat alles, was ein gelungener Abend braucht: mit Selbstironie gepaarter Humor, eingängige Songs, wunderbar spielfreudige Darsteller, Tanz, Gesang, Glitzer, Glamour und dabei auch Tiefgang, der nicht mit dem Holzhammer daherkommt, sondern in dem 50-Jahre-alten Musical von John Kander und Fred Ebb immanent ist. Wunderbar!
Showtreppe und Gerichtssaal
Das Bühnenbild (Timo Dentler und Okarina Peter) besteht aus Treppenelementen. Mal werden diese zur Showtreppe, mal zum Gerichtssaal. Für manche geht es hinauf, für andere hinab. Nach den tödlichen Schüssen auf den Liebhaber geht es für Roxie Hart (Jeannine Michèle Wacker) erst einmal an die untersten Stufen, die Gefängnis-Chefin Mama Morton (Patricia Hodell) im sexy Silberkostüm wie eine Domina hinabschreitet.
Eigentlich fehlt nur noch, dass Mama Morton eine kleine Gerte in der Hand trägt. Sie ist es, die mit Zuckerbrot und Peitsche ihre Insassinnen ganz nach ihrem Belieben dirigiert – und die auch den Anwalt Billy Flynn (Fabio Diso) ab und an ins Spiel bringt, wenn sie Potenzial sieht. Potenzial zum Promi-Status und dadurch auch Potenzial für ein kleines Nebeneinkommen. Denn selbstverständlich lässt sie sich diesen Vermittlungsdienst gut bezahlen. Bei Roxie sieht sie Potenzial. Billy Flynn kommt ins Spiel. Er weiß, wie man Menschen auf die Promi-Schiene schiebt – mit Hilfe der Presse.
Inszenierung für die Presse
Und so lernt Roxie sich für die Fotografen und Journalisten zu inszenieren. Noch ein Foto? Selbstverständlich! Wenn es dem Zweck dient, ist Roxie dabei. Wer ein Star werden oder bleiben will, ist darauf angewiesen, dass sich die Journalisten für einen interessieren. Roxie geht so weit, dass sie eine Schwangerschaft inszeniert. Geschickt frisiert Flynn ihren Lebenslauf, veranstaltet Pressekonferenzen und dirigiert die Journalisten, indem er ihnen immer wieder neues Futter gibt.
Flynn hat etwas Grundlegendes verstanden, das er Roxie in dem Song „Give `em the old razzle dazzle“ auch direkt sagt: „How can they see with sequins in their eyes?“ Was man frei damit übersetzen könnte: Wie sollen Sie die Wahrheit bei all dem Paillettenglanz erkennen können? Denn eins steht fest: Auch die Presse sieht nur, was sie sehen möchte. Besonders die Reporterin Mary Sunshine (Martin Mulders) in ihrem knallgelben Lacktrenchcoat hat das verinnerlicht: Sie glaubt nur an das Gute im Menschen. Egal, was passiert ist.
And all that Jazz
Es ist also ein abgekartetes Spiel auf beiden Seiten. Und dieses Spiel kommt so fröhlich und unbeschwert daher, dass man selbst den Zellenblocktango leise mitsummen möchte, in dem sechs Mörderinnen erklären, warum sie nicht anders konnten als ihre Männer ins Jenseits zu befördern. Die Songs in „Chicago“ haben Gassenhauer-Ohrwurm-Qualität (musikalische Leitung: Piotr Jaworski), die Inszenierung (Felix Seiler) ist trotz der Länge (2 Stunden 40 Minuten) nicht einen Moment langweilig. Am Ende wird es sogar noch eine Szene mit ihrer einstigen Gegenspielerin und Knastverbündeten Velma Kelly (Karin Seyfried) geben, die man so vielleicht nicht erwartet hätte. Sie tanzen gemeinsam. The show must go an. Mord? Korruption? Ach was. Roxie und Velma lassen ihre Pailletten-Kostüme glitzern und geben dem Publikum „All That Jazz“. Wer wird mehr dahinter sehen?
Text: Heike Schmidt
Fotos: Tim Müller/Oper Hannover