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Ein Besuch unter Nackten 

20. April 2024

Der Westflügel im Schloss Herrenhausen bietet zum vorerst letzten Mal die Kulisse für eine sehenswerte Sonderausstellung, die bereits im Vorfeld für mediales Aufsehen sorgte. Am 6. April wurde vor großem Publikum die temporäre Ausstellung „Unter Nackten“ eröffnet, die sich der Freikörperkultur seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert widmet. 

Baden mit und ohne

Unabhängig davon, ob man selbst zu den Anhängern der Freikörperkultur zählt: So ziemlich jeder ist schon einmal beim Spaziergang am Strand oder an ausgewählten Seen auf eine Gruppe von Menschen gestoßen, die ihren Badeurlaub möglichst unverhüllt genießen. So ungezwungen, wie die Sängerin Wencke Myhre es in ihrem Schlager „Baden mit und ohne“ singt, halten es aber längst nicht alle mit der Freikörperkultur, kurz: FKK. Den Schriftsteller Franz Kafka etwa überkam im Jahr 1912 anlässlich eines Aufenthalts in der Harzer Heilanstalt Jungborn beim Anblick der „gänzlich Nackten“ leichte Übelkeit. 

Die Freikörperkultur polarisiert und fasziniert seit ihrem Aufkommen im späten 19. Jahrhundert – und das bis heute. Die Ausstellung „Unter Nackten“ erzählt nun in sechs Abschnitten, was es im jeweiligen Kontext der Zeit bedeutete, unter freiem Himmel nackt zu sein, welche Konsequenzen damit einhergehen konnten und wie sich die FKK-Anhänger in Vereinen organisierten, um eben diese zu umgehen. Zahlreiche Abbildungen, Filmausschnitte und Zeitdokumente vermitteln dabei einen Eindruck von den unterschiedlichen Erscheinungsformen und Inszenierungen des Nacktseins. 

Zur Entstehung der Nacktkultur

Die Ursprünge der Nacktkultur liegen in einer sozialen Bewegung des städtischen Bürgertums, die während der späten Kaiserzeit ein „Zurück zur Natur“ propagierte. Es war kein Zufall, dass sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine Lebensreformbewegung herausbildete, die in der Natur das ideale Gegenbild zur Großstadt erblickte. Im Zuge der Industrialisierung waren etliche Städte in rasender Geschwindigkeit gewachsen. Dicht bevölkerte Straßen und qualmende Schornsteine galten manchen Zeitgenossen nicht als Zeichen des Fortschritts, sondern als Zeichen des Verfalls. Die Natur dagegen erschien den Anhängern der Reformbewegung als etwas Vollkommenes und Reines, das Körper und Seele beim unverhüllten Luft- und Sonnenbaden zu heilen vermochte. 

Vom Luftbaden bis zum FKK-Tourismus

Die Bewegung wuchs innerhalb weniger Jahrzehnte auf 100.000 Anhänger an. In Sanatorien und Naturheilanstalten kam das Luftbaden in Mode, bei dem sich Patientinnen und Patienten in sogenannten Luft-Hütten nackt aufhalten konnten. Trotz einer wachsenden Akzeptanz der FKK-Anhänger kam es immer wieder zur Erregung öffentlichen Ärgernisses. Das völlig enthüllte Lichtbaden bedurfte auch in der Weimarer Republik eines geschützten Raumes, um Strafanzeigen zu entgehen: Im umzäunten Gelände konnten die FKK-Anhänger zudem hüllenlos Leichtathletik und Wassersport betreiben. Während des Nationalsozialismus lag der Schwerpunkt in den gleichgeschalteten FKK-Vereinen noch stärker als zuvor auf dem Sport, wobei das Nacktbaden mit Einschränkungen erlaubt blieb. Nach 1945 setzte mit dem neugegründeten Bundesverband der Freikörperkultur und dem Boom der Campingplätze der FKK-Tourismus ein. Doch erst im Zuge der freizügigen 1968er Bewegung wurde das Nacktbaden vollkommen enttabuisiert, womit die FKK-Vereine zugleich ihre ehemalige Bedeutung einbüßten. 

Hannover als FKK-Hochburg

Die Stadt Hannover bildete bei der allgemeinen Entwicklung keine Ausnahme, sondern besaß nach Aussage von Ausstellungs-Initiatorin Dr. Cornelia Regin alles, was eine FFK-Bewegung benötigte: die entsprechenden Vereine, die Gelände und die Naturheilanstalten. In der Ausstellung vermittelt ein Stadtplan aus den 1920er Jahren einen Eindruck von dem Wirken der alternativen Vereine in Hannover. Als 1956 die Internationale Naturisten-Föderation einen Weltkongress in Hannover veranstaltete, entwickelte sich die Stadt vorübergehend sogar zur Hochburg der internationalen FKKBewegung. Bis heute finden Naturisten etwa am Sonnensee in Hannover-Misburg ein Mekka der Freikörperkultur vor.  

Europas größte FKK-Sammlung befindet sich in Hannover

Die Ausstellung „Unter Nackten“ ist ein gemeinsames Projekt der Museen für Kulturgeschichte Hannover, des Stadtarchivs Hannover und des Niedersächsischen Instituts für Sportgeschichte in Hannover (NISH). 

Ausgangspunkt der Ausstellung ist eine 200 Regalmeter umfassende Sammlung an Dokumenten zur Freikörperkultur, die im Jahr 2011 als Schenkung an das NISH überging. Aufgrund ihrer historischen Einzigartigkeit waren Teile der Sammlung bereits europaweit in verschiedenen Museen und TV-Formaten zu sehen und werden nun erstmals in Hannover einer breiten Öffentlichkeit präsentiert. 

Hinweise zum Begleitprogramm

Die Ausstellung „Unter Nackten“ im Museum Schloss Herrenhausen läuft noch bis zum 1. September 2024 und kann täglich zwischen 11 und 18 Uhr besucht werden.  

Kurator Dr. Andreas Urban vom Historischen Museum Hannover bietet an folgenden Sonntagen Führungen durch den Ausstellungsraum an: 14.04., 28.04., 07.07., 18.08., 01.09., jeweils um 11:30 Uhr. Kurzführungen durch die Ausstellung wird es auch im Rahmen der Museumsnacht am 8. Juni geben. 

Darüber hinaus werden literarische Führungen zur Nacktkultur zwischen 1890 und 1970 angeboten. Die literarische Komponistin und Rezitatorin Marie Dettmar präsentiert Lyrik und Prosa verschiedener Autoren im Spiegel der Zeit am 21.04., 04.05., 01.06. und 03.08., jeweils um 14 Uhr. Treffpunkt ist das Foyer. 

Text von: Dr. Vanessa Erstmann Bild:

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