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Wenn Taube wieder hören können

18. Januar 2024

Vor 40 Jahren wurde das erste Cochlea-Implantat in Hannover eingesetzt. Damals begann eine Erfolgsgeschichte, die noch heute weitergeschrieben wird.

Nein, er hätte wahrscheinlich nie studiert. Er wäre heute nicht Ingenieur. Er wäre noch immer taub: Alexander Bley mag gar nicht daran denken, was aus ihm ohne seine Cochlea-Implantate (CI) geworden wäre. Der heute 33-Jährige kam gehörlos zur Welt. Im Alter von 13 Monaten erhielt er als weltweit jüngstes Kind Cochlea-Implantate, die aus einem gehörlosen einen hörenden Jungen machten.

Aus tauben werden hörende Menschen

Foto: Privat
Foto: Privat

Was heute noch immer wie ein Wunder klingt, ist längst Realität für viele Menschen: Seit 40 Jahren können gehörlose Menschen dank einer Versorgung mit Cochlea-Implantaten (CI) wieder hören. In Hannover begann die CI-Erfolgsgeschichte. 55.000 Menschen in Deutschland tragen inzwischen ein CI. Doch die Versorgungslücke ist noch immer groß. „Eine Million Menschen in Deutschland bräuchten ein CI“, schätzt Prof. Dr. med. Thomas Lenarz, Direktor der HNO-Klinik und des Deutschen HörZentrums der Medizinischen Hochschule Hannover. Aus diesem Grund möchte das Cochlear Experience Center in Hannover den runden Geburtstag dazu nutzen, auf diese Unterversorgung aufmerksam zu machen.

Idee am Strand

Es waren eine Muschel und ein Grashalm am Strand von Australien, die Prof. Graeme Clark dazu inspirierten, eine Lösung für taube Menschen zu finden. Mit einem Grashalm stocherte der HNO-Arzt im Innern einer schneckenförmigen Muschel herum. Sie glich der Cochlea, der Schnecke im Innenohr, in der die Sinneszellen zum Hören liegen. Wenn diese Sinneszellen zerstört waren, konnte der Mensch nicht mehr hören. Was wäre, wenn man einen Weg finden würde, die Nerven direkt zu stimulieren. Ohne Sinneszellen? Die Idee, die das Leben tausender Menschen verändern würde, war geboren. 1978 implantierte Clark das erste CI weltweit. In Hannover versorgte Professor Ernst Lehnhardt (1924 – 2011) an der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH) 1984 erstmals vier Patienten mit einem Nucleus Cochlea-Implantat von Cochlear und begründete damit eine Erfolgsgeschichte für die CI-Versorgung in Hannover.

Hannover führend in der Welt

„Allein an der MHH haben wir 11.000 Menschen bereits mit CIs versorgt“, berichtet Prof. Lenarz, der die Leitung der HNO-Klinik der MHH 1993 von Ernst Lehnhardt übernommen hatte: „Entscheidend für die Etablierung der CI-Versorgung war von Beginn an das interdisziplinäre Zusammenspiel in unserer Klinik. Medizin und Technologie, Audiologen und Pädagogen arbeiten seit damals Hand in Hand, um die optimale Versorgung einer stetig steigenden Zahl an Patienten sicherzustellen und die Versorgungsqualität weiter zu erhöhen.“ Die MHH sei das führende CI-Zentrum weltweit. Kontinuierlich werde weitergeforscht. Das nächste Ziel: der Aufbau eines deutschen Zentrums für Hörforschung. Gemeinsam mit der VW-Stiftung gebe es Pläne, dieses Ziel zu verwirklichen.

Ein Segen für Betroffene

Ministerpräsident Stephan Weil sagte dafür seine Unterstützung zu. „Die CI-Versorgung ist nicht nur ein Segen für die Betroffenen, sondern auch für Niedersachsen als Forschung- und Entwicklungsstandort wichtig“, betonte er während seines Besuchs im Cochlear Experience Center in Hannover. Dort stellte Sylwia Swiston dem Ministerpräsidenten bei einem kleinen Rundgang die technische Entwicklungsgeschichte der Cis vor. Von einem anfänglich recht sperrigen Kasten, der in Verbindung mit einer Art Hörgerät als CI funktionierte, können die Mini-Hochleistungscomputer, die heute in den CIs stecken, sogar per Handy gesteuert werden.

Akustiker werden Partner

„Wir können Anpassungen sogar remote vornehmen“, erklärt Prof. Lenarz. Aus der Ferne könne man Cochlea Implantate steuern. Dazu müsse sich der Patient nur ins Hörzentrum einwählen. Auch vor Ort arbeiten die CI-Experten an Lösungen, wie ihre Patienten besser versorgt werden können. „Wir arbeiten mit Kind zusammen“, erklärt Lenarz. Das Unternehmen schule seine Hörakustiker, so dass sie CI-Anpassungen auch vornehmen könnten. „Die Akustiker werden zunehmend Partner“, so der Experte: „Sie haben eine Schlüsselrolle, wenn sie die Nachsorge übernehmen können. Das wäre ein gewaltiger Schritt nach vorn.“

Bedenken vor der Operation

Sylwia Swiston trägt selbst auch CIs. Lange habe sie sich gescheut, sich operieren zu lassen. Ein Cochlea-Implantatsystem besteht aus zwei Teilen: Einem externen Soundprozessor und einem implantierten Elektrodenträger, der chirurgisch in die Hörschnecke eingeführt wird. Der externer Soundprozessor erfasst mit zwei Mikrofonen den Schall und wandelt diesen in elektrische Signale um. Diese Signale werden an das Implantat gesendet, die es an den Hörnerv im Gehirn übermittelt. „Viele haben Scheu, ihr Restgehör zu verlieren“, erklärt Lenarz.

Positive Veränderung

Sylwia Swiston hat 13 Jahre lang die Operation vor sich hergeschoben. „Ich konnte noch nicht einmal telefonieren. Stattdessen habe ich auf schriftliche Kommunikation gesetzt“, erinnert sie sich. Aus heutiger Sicht ist es ihr unverständlich: „Hätte ich gewusst, wie sehr mich mein Leben zum Positiven verändern würde, hätte ich die Operation sofort machen lassen.“ 30000 Euro kostet eine solche Operation inklusive Reha. Bei den Betroffenen werden die Kosten von der Krankenkasse übernommen.

Früherkennung durch Hörscreening

Während erwachsene Menschen oftmals Bedenken haben und es noch eine große Versorgungslücke gibt, sieht es bei Kindern und Jugendlichen weitaus besser aus. Durch das Hörscreening bei Neugeborenen, das gleich nach der Geburt durchgeführt wird, können frühzeitig Hörschäden entdeckt werden. Inzwischen gehört ein solches Screening zu den Standards.

Tür in die Welt der Hörenden

Als Alexander Bley auf die Welt kam, gab es solche Screenings noch nicht. Der heutige Ingenieur hat es seiner Mutter zu verdanken, dass er als erstes Kleinkind mit 13 Monaten mit einem CI versorgt wurde. Natürlich hätten seine Eltern auch Bedenken gehabt. Aber was wäre die Alternative gewesen? Ein taubes Kind. Da die Sprachentwicklung von Kindern unmittelbar ans Hören gekoppelt ist, hätte diese wahrscheinlich verzögert eingesetzt. „Ich weiß noch, ich hatte immer einen Rucksack mit dem Apparat dabei“, erinnert sich der heute 33-Jährige. Gestört habe ihn der nie. Wahrscheinlich, weil er unbewusst mitbekam, dass ihm das Gerät die Tür zur hörenden Welt öffnete. Seine Mutter Kerstin Eishold sagt heute: „Ich war immer nur glücklich darüber, dass Alex hört.“

Wenn das Feedback fehlt

In seiner Freizeit startet Alexander Bley als Leichtathlet sowohl bei gehörlosen als auch bei hörenden Wettkämpfen. Er ist erfolgreich. Bei Welt- und Europameisterschaften gewann er Medaillen. Was den einen Wettkampf vom anderen unterscheidet? „Bei den Wettkämpfen der Gehörlosen muss ich die CI abnehmen“, erklärt der 33-Jährige. Und das ist dann für ihn auch ein bisschen komisch. „Normalerweise höre ich beim Laufen meinen Atem. Das ist weg. Ich höre nichts mehr. Ich habe kein Feedback mehr. Das fühlt sich dann schon seltsam an.“

Text: Heike Schmidt, Fotos: Privat, ChochlarLTD

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