Sei es in Hannovers Schauspiel-Ensemble, sei es im Fernsehen: Anja Herden macht Furore. Mit nobilis sprach sie über Göttliches, Schwarzsein und Biberstaudämme.
Text: Jörg Worat Foto: Alexi Pelekano
Soll niemand sagen, nach vielen Jahren auf der Theaterbühne wären keine Überraschungen mehr drin: Als Anja Herden bei der Premiere von „Volksfeind“ – frei nach Ibsen – in ihrem großen Monolog forderte, die Menschen sollten sich erheben, musste sie feststellen, dass ein Großteil des Publikums tatsächlich aufstand. „Damit hatte ich überhaupt nicht gerechnet“, wundert sich die Darstellerin noch heute, wiewohl sie bei den folgenden Vorstellungen fast immer einer Wiederholung erlebt hat. Klarer Fall: Anja Herden ist offenkundig etwas Überzeugendes zu eigen.
Auch in einer weiteren Rolle räumt sie voll ab und steigt dabei in der Hierarchie noch eine Stufe höher: Ist die Schauspielerin im „Volksfeind“ bereits die respektable Badeärztin Dr. Betty Stockmann, mutiert sie in „Bitch I‘m a Goddess“ sogar zur Göttin. Und bevor der Eindruck entsteht, hier sei die Furie vom Dienst zugange, sei darauf hingewiesen, dass Herden oft genug bewiesen hat, wie gut sie auch die Zwischentöne und die leisen beherrscht.
Zurück zum „Volksfeind“. Die hannoversche Version ist mit der Bezeichnung „nach Henrik Ibsen“ ausgewiesen, weil es doch eine Menge Eigenbau gibt. Im Gespräch verrät die 51-jährige Darstellerin, die jünger wirkt, dass manche Texte vom Ensemble geschrieben wurden: „Ich und Torben Kessler haben uns dabei richtig hochgeschaukelt.“ Kessler spielt hier den Bürgermeister eines Kurorts, in dem die Badeärztin – im Original eine männliche Figur – eine bestürzende Entdeckung gemacht hat: Das Wasser vor Ort ist verseucht. Eigentlich müssten die Thermen somit geschlossen werden, was indes ökonomisch katastrophal für die Stadt wäre. Es entsteht eine vehemente Auseinandersetzung, die dadurch verschärft wird, dass die Kontrahenten Geschwister sind.
Kontrollverlust und Ohnmacht
Eine Streiterin für die Wahrheit – das muss doch eine Traumrolle sein? Nun heißt das Stück im Original nicht ohne Grund „Ein Volksfeind“: „Die Betty ist ja auch extrem anmaßend und selbstgerecht“, sagt Herden und differenziert auf die Frage, wann ihr die Figur denn am sympathischsten sei, schön aus: „Am sympathischsten ist mir Betty, wenn sie unsympathisch wird. Wenn sie die Form und die Kontrolle verliert. Wenn Wut, Enttäuschung, Verzweiflung und Hilflosigkeit sie übermannen angesichts des höchst kritischen Zustands der Welt und der Ohnmacht, mit der wir diesem Zustand begegnen.“
Springen wir eine Ebene weiter: „Bitch I‘m a Goddess“ ist eine neue Version der antiken Euripides-Tragödie „Bakkhai“. Auch hier gibt es eine Geschlechtsumwandlung: Herden steigt als weibliche Version des Gottes Dionysos aus dem Zuschauerraum auf die Bühne, predigt die Wonnen der Ekstase und sorgt in der Folge dafür, dass der nüchterne Thebaner-König Pentheus zuerst die Lust und dann das Leben verliert. Vermittelt die Rolle ein göttliches Gefühl? „Da sich ja in diesem speziellen Fall die Göttin Dionysos den menschlichen Körper der Anja Herden ausleiht, um sich hienieden zu zeigen, fühlt sich das sehr vertraut an.“ Und könnte eine neue Karriere als Göttin anstehen, falls es mit der Schauspielerei mal nicht so laufen sollte? „Nein, eine Umschulung zur Gottheit käme nicht infrage. Die damit einhergehenden göttlichen Neurosen und Egomanien, mit denen man sich dann zwangsläufig rumplagen müsste, wären mir auf Dauer doch zu aufreibend.“
Schwarz und weiß
Eine inzwischen abgespielte Inszenierung hat einen besonderen Stellenwert in Herdens Biographie, nicht nur weil sie damit für den Nestroy- und den Dorothea-Neff-Preis nominiert wurde: In „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“ von Milo Rau spielt sie per Filmeinblendungen eine Schwarze, live eine Weiße. Wofür das Gegenteil des zuletzt so oft in der Diskussion stehenden „Blackfacing“ angesagt war: In dreistündiger Maskenarbeit wurde die schwarze Schauspielerin Herden umgeschminkt. Was für eine Erfahrung war das? „Vieles ging mir dabei im Laufe der Vorstellungen durch den Kopf. Von ,Wer wäre ich geworden, wenn ich mit dieser Hautfarbe geboren wäre?‘ bis hin zur reinen Faszination, dass mir dieser Mensch, der mir am Ende gegenübersaß, einerseits immer wieder absolut fremd war und andererseits auch absolut vertraut, weil ich dieser ja irgendwie prototypischen Blondine im ,echten Leben‘ schon sehr oft begegnet bin.“
Anja Herden ist in Bielefeld geboren als Kind einer deutschen Mutter und eines nigerianischen Vaters, den sie nie kennengelernt hat. Ihr Weg zum Theater weist einige Windungen und Wendungen sehr unterschiedlicher Natur auf: „Ich war auf der Schule eine Theater-AG-Maus, bin dann aber rausgeflogen, als ich mich geweigert habe, eine Nazi-Figur zu spielen. Das fand ich als Schwarze unpassend – dabei war das aus heutiger Sicht ein total progressiver Regieansatz.“ Tatsächlich ist ja ein Markenzeichen des aktuellen hannoverschen Ensembles unter Intendantin Sonja Anders gerade das klare Bekenntnis zur Diversität.
Durch die Hintertür zum Erfolg
Doch Anja Herden hat in dieser Hinsicht auch andere Erfahrungen gemacht. Nachdem sie die Schule abgebrochen hatte, bewarb sie sich an der Frankfurter Theaterakademie: „Beim Vorsprechen hat mich eine Dozentin in eine Art Besenkammer geführt und mir, fast tränenüberströmt, mitgeteilt, dass jemand wie ich, ganz unabhängig vom Können, am deutschen Theater keine Chance hätte.“ Gleichwohl wurde die ambitionierte Jungdarstellerin direkt bei Akademieleiter Peter Iden vorstellig: „Er hat einen Blick in meine Biographie geworfen und gesagt: ,Du hast ja nicht mal Abitur.‘ Im Nachhinein bin ich ihm dankbar – ich habe das Abi nachgemacht und bin dann direkt an der Folkwang-Schule in Essen aufgenommen worden.“
Zeitsprung: Inzwischen ist die Darstellerin nicht nur auf der Bühne, sondern auch im TV angekommen. Unlängst spielte sie eine elegante Lady in einem um Finanzthemen kreisenden „Tatort“, und im vergangen Sommer hat sie eine Serie mit David Hasselhoff und Henry Hübchen gedreht: „Soll im Herbst rauskommen.“
Bei solchem Erfolg wären ja ein paar Allüren nicht verwunderlich, doch im Gespräch wirkt Herden höchst bodenständig. Wie auch die Antwort auf die Frage nach den liebsten Aufenthaltsorten in Hannover verrät: „Während des ersten Lockdowns haben mich die Leineauen gerettet, dort war ich stundenlang spazieren, joggen und radfahren. Und ich bin sehr glücklich, dass ich, da ich in Döhren wohne, innerhalb von fünf Minuten Störche und Biberstaudämme bewundern kann. Außerdem genieße ich es, im ebenfalls nahe gelegenen ASPRIA mit Blick auf den Maschsee Text zu lernen oder einfach nur zu entspannen.“
Und wenn Anja Herden auch bekennt, gerne mal allein zu sein, weiß sie doch seit 18 Jahren einen Partner an ihrer Seite: Schauspieler Lukas Holzhausen, ebenfalls Mitglied im hannoverschen Ensemble. Was zu der Frage führt, ob es die Beziehung eigentlich besonders einfach oder besonders kompliziert macht, wenn der Lebensgefährte ein Kollege ist: „Beides gleichermaßen. Die vielen wichtigen langen Gespräche, Diskussionen und der intensive Austausch, den Lukas und ich haben, ist ein unglaublich essenzieller Teil unser beider Arbeit!“ Und dann fügt die Schauspielerin an: „ Aber manchmal ist definitiv zu viel Theater im Haus …“