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Was heißt hier naiv?

08. Mai 2023

Das Sprengel Museum wirft die Frage aufWelche Moderne?“ und präsentiert In- und Outsider der Avantgarde.
Text: Heike Schmidt  Foto: Herling / Gwose, Sprengel Museum Hannover
Nicht auf die Schildchen schauen. Auch, wenn es schwerfällt. Nicht lesen. Bilder betrachten. Und sich die Frage stellen: „Was ist daran naiv?“ Ist die „Katze mit Salamander“ im Maul der Naiven Kunst zuzuordnen? Ist es der „Fingerhut im Garten“ oder vielleicht „Eva im irdischen Paradies“, der die Schlange auf einem daneben hängenden Bild die verbotene Frucht reicht? Welches der Bilder ist naiv? Welches ist Avantgarde? Nur so viel sei verraten: eines der Bilder ist von August Macke, eines von Richard Seewald und das Dritte von Henri Rousseau. Doch nur ein Künstler wird als Vertreter der Naiven Kunst zugeordnet. Es ist Henri Rousseau.
Was als Spiel erscheint, hat durchaus einen ernsthaften Hintergrund. Die Kunstgeschichte hat die Vertreter der Naiven Kunst seit den 70er Jahren ausgeklammert. In den Museen kamen sie nicht vor. Naiv galt als einfältig, harmlos, dümmlich. Naive Kunst im Kontext der Klassischen Avantgarde zu sehen? War nicht erwünscht. Dabei spielte sie in der Kunst zwischen den beiden Weltkriegen des vergangenen Jahrhunderts eine bedeutende Rolle. Die Ausstellung „Welche Moderne? In- und Outsider der Klassischen Avantgarde“ im Sprengel-Museum möchte dies jetzt aufzeigen.

Otto Dix, Familie des Malers Adalbert Trillhaase,  Foto: Jörg P. Anders

Das Sprengel Museum zeigt naive Kunst

„Ab den 70er Jahren war die naive Kunst in der Versenkung verschwunden“, betont Reinhard Spieler, Direktor des Sprengel Museums: „In der Kunstgeschichte war sie nicht mehr vorhanden.“ Mit dieser Ausstellung wolle man die herkömmlichen Narrative aufbrechen und gleichzeitig die Wichtigkeit der Kunstform aufzeigen – auch in Hinblick auf die Entwicklung der Klassischen Avantgarde.
An einer Reihe von Porträts ist diese Entwicklung besonders gut zu erkennen. Zunächst steht der Betrachter vor einem Porträt von „Henri X“, das Henri Rousseau 1906 gemalt hat. Der Herr mit Schnauzbart hält eine Zigarette in der Hand. Eine Katze sitzt vor ihm. Auf dem Kopf trägt er einen Hut. Gleich daneben ein Selbstbildnis von Max Beckmann mit steifem Hut. Er hat sich selbst 1921 verewigt. Der Hut, die Katze, der Ausdruck im Gesicht – als habe der Rousseau als Vorbild gedient. Ein Schritt weiter ist Pablo Picassos „Frau mit Blumenstrauß“ von 1909 gehängt. Der Bildaufbau ist wie bei dem „naiven“ Rousseau. Ein Zufall? Sicherlich nicht.

Séraphine Louis, Blumen, Privatbesitz

Neue Art, um Kunst und Geschichte zu lesen

Die aus heutiger Sicht vergessenen und vermeintlichen Außenseiter standen zu ihrer Zeit im engen künstlerischen Austausch mit ihren Künstlerkollegen, auf die sich die Erzählung der Moderne später weitgehend fokussiert. „Das Naive gehört zur Avantgarde“, betont auch Kuratorin Manja Wilkens. Es ist eine neue Lesart der Kunst und ihrer Geschichte. Es ist zudem eine sehr spannende Lesart, die zeigt, dass das Naive, das zu seiner Zeit sehr populär war, die Moderne und die Avantgarde durchaus beeinflusst hat. Es ist wunderbar, dass das Sprengel Museum diese Verbindung offenlegt und somit auch einen Baustein in der Entwicklung in der Kunst einfügt, der lange ignoriert wurde.
„Die Ausstellung will Abstand nehmen von einem einseitigen Zuschreibungsparadigma. Vielmehr wollen wir die engen Verbindungen und Verflechtungen mit bekannten Vertretern der Klassischen Moderne in den Mittelpunkt stellen und scheinbar allgemeingültig geführte Kategorisierungen hinterfragen“, betont auch Alexander Leinemann, Co-Kurator der Schau.
Es macht Spaß, spielerisch auf Entdeckungsreise durch die Räume zu gehen und eine so unbekannte Malerin wie Séraphine Louis und ihre feinen Blumensträuße zu entdecken. In ihrer Nachbarschaft hängen „Die Levkojen“ von 1949 von Marc Chagall. Natürlich erkennt man den Chagall auf Anhieb, doch es stellt sich wiederum die Frage: Haben die Maler der „Art populaire“ die (nachfolgenden) Künstler vielleicht mehr beeinflusst als der klassischen Kunstgeschichte lieb war?
Reinhard Spieler und Manja Wilkens, die sich aus Studientagen kennen, verfolgen mit der Ausstellung ein Ziel: „Wir möchten ein neues Licht auf die Geschichte der klassischen Moderne werfen, die seit dem Zweiten Weltkrieg als eine Abfolge von Expressionismus, Kubismus, Futurismus, Konstruktivismus, Dada und Surrealismus erzählt wird, und die Frage stellen, ob wir diese Geschichte anders erzählen müssen.“ Dies ist gelungen. Diejenigen, die nicht sofort auf die Schildchen schauen, werden überrascht sein, wie expressiv manches Naive sein kann.

Christian Schad, Mexikanerin, 1930, Öl auf Leinwand, Museen der Stadt Aschaffenburg © Christian-Schad-Stiftung Aschaffenburg (CSSA) / VG Bild-Kunst, Bonn 2023, Foto: Stefan Stark

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