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Präzise ungenau

06. März 2024

Prof. Siegfried Neuenhausen findet auch mit 92 Jahren und Sehbehinderung kreative Wege für sein künstlerisches Schaffen.

Ich plane nur noch für acht Jahre“, betont Prof. Siegfried Neuenhausen während einer Tasse Kaffee im Gespräch mit Nobilis. Ist das optimistisch oder eher pessimistisch? Immerhin vollendete der zeitlebens gesellschaftskritisch und sozial engagierte Künstler am 30. November 2023 seinen 92. Geburtstag. Doch weder die Corona-Pandemie noch seine schwindende Sehkraft hindern ihn, weiterhin künstlerisch aktiv zu sein. Im Gegenteil: Siegfried Neuenhausen hat mit der von ihm so benannten „präzisen Ungenauigkeit“ seinen ganz persönlichen Stil zum anhaltenden kreativen Schaffen gefunden.

„Ich hatte mich mit dem Ende meiner künstlerischen Arbeit abgefunden“

„Um die Jahreswende 2019/20 war meine Augenkrankheit so weit fortgeschritten, dass ich selbst mit der stärksten Lupe nicht mehr lesen konnte. Ich hatte mich mit dem Ende meiner künstlerischen Arbeit abgefunden“, erinnert er sich. Dunklere Farben kann er schon damals nicht mehr unterscheiden. Und Malen und Zeichnen geht gar nicht mehr. Zeit also für eine Inventur des eigenen Schaffens. Rund 700 bis dato unverkaufte „Deutsch-Deutsche Blätter“-Drucke will er platzgewinnend aus seinen Atelier-Schubfächern entfernen. Beim Zerschneiden der Bögen kommt jedoch die Wende: „Ich entdeckte, dass ich die harten Schwarz-Weiß-Kontraste noch gut wahrnehmen kann. Trotz oder vielleicht sogar wegen der Sehbehinderung“, freut er sich heute. In der 2020 beginnenden Corona-Zeit werden die zerschnittenen Druckschnipsel von ihm zu Collagen zusammengefügt. Über 200 kleinere und größere sind es inzwischen, betitelt: „Pandemische Collagen“.

Eine Kornbrennerei wird zum Werkhof für Künstler

So häufig nun die Schwarz-Weiß-Optik seine aktuelle Kunst beherrscht, so wenig findet man klassisch Schwarz-Weißes-Denken oder -Handeln in seinem Lebenslauf. Der in Dormagen geborene Siegfried Neuenhausen studiert in Düsseldorf Malerei und zeitgleich Philosophie in Köln. Drei Jahre arbeitet er danach in Hannover als Kunsterzieher, bevor er 1964 eine Lehrtätigkeit an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig aufnimmt. Aus der 1983 in Hannover-Hainholz erworbenen früheren Kornbrennerei August Schmidt entwickelt Neuenhausen dann schnell einen von ihm und weiteren Künstlern bis heute bewohnten Werkhof. „Hier haben inzwischen über 30 Künstler gelebt und gearbeitet“, zählt Neuenhausen nach. Selbst künstlerisch aktiv mit Malerei und Grafik, Bildhauerei und Kunst im öffentlichen Raum, dient sein Werkhof auch als Mittelpunkt für Kunstaktive in Hainholz und als Basis seines gesellschaftlichen Engagements für zahlreiche Stadtteilprojekte. So entstehen zwischen 2004 und 2014 als Beitrag zur Stadtteilsanierung in intensiver Zusammenarbeit mit Hainhölzern großformatige keramische Skulpturen für den öffentlichen Raum. Die Hainholz-Stele und die Figurinen „Dame“ und „König“ zählen ebenso dazu wie zwei Straßenbahnmasten-Skulpturen und von Freizeitkünstlern gefertigte Selbstporträts am Spielplatz Voltmerstraße. Bis zu 40 Hainhölzer sind im Rahmen der Projekte dafür im Werkhof gemeinsam aktiv. In einem Schulprojekt werden außerdem kreative „Fahnen für Hainholz“ gestaltet. „Der positive Nebeneffekt: Wo sich Menschen mit ihrer selbst gestalteten Umgebung identifizieren, gibt es keine Müllecken“, stellt er fest.

Mensch und Gesellschaft in der Kunst

Siegfried Neuenhausens Interesse am Menschen und an gesellschaftlichen Verhältnissen kommt schon in frühen Werken zum Ausdruck, so im 1971 gefertigten „Denkmal für Joao Borges de Souza“ zum Thema Folter. Mit 15 Strafgefangenen der JVA Bremen fertigt er 1978 Steinskulpturen für den Parkstreifen. Aus dem preisgekrönten Pilotprojekt resultiert eine dauerhafte Bildhauerwerkstatt. Zu deren 40-jährigen Bestehen wird sie 2018 auf nunmehr drei Werkstätten mit insgesamt elf Kunstpädagogen erweitert. 1982 betreut er zudem Bildhauerprojekte in den psychiatrischen Kliniken Wunstorf und Hamburg-Ochsenzoll. Dabei steht für Neuenhausen die Selbstwahrnehmung der Beteiligten durch künstlerische Selbsterfahrung und das damit gesteigerte Selbstwertgefühl im Mittelpunkt. Seine gesammelten Projekterfahrungen kommen ihm ab 1983 bei seinen Projekten in Hainholz dann zugute. „Das war hier die Bronx von Hannover damals“, so Neuenhausen im Rückblick. Mit 17 künstlerischen Arbeiten internationaler Künstler an der Firmenwand gegenüber seines Werkhofes, darunter auch seine bekannten vier fliegenden Hüte, etabliert er 1991 die Bertramstraße als aufsehenerregende Bilderwand.

Auch im öffentlichen Raum ist die Kunst von Prof. Neuenhausen sichtbar. Hier in Form einer Riesenschraube und Hüten an der Wand eines Gebäudes.

Papierscheren und Pritt-Kleber statt Pinsel

Für das jahrzehntelange schöpferische und gesellschaftliche Wirken – in seinen 80 sogenannten Künstlerbüchern finden sich 12.000 Seiten voller Collagen und Zeichnungen, Fotos und Texte – erhält Siegfried Neuenhausen 1988 das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, 2006 die Stadtplakette Hannover und 2016 den Stadtkulturpreis Hannover. Sein Anliegen, Kunst nicht nur fachgerecht zu vermitteln, sondern diese den Menschen auch als Möglichkeit des persönlichen Ausdrucks nahezubringen, hält ihn dabei phasenweise selbst von der eigenen künstlerischen Arbeit ab. Neben der langjährigen Braunschweiger Hochschultätigkeit ist er Vorsitzender vom Deutschen Künstlerbund (1985–88) und hält Gastprofessuren in San Antonio (USA/Texas, 1990) und Bandung (Indonesien, 1996). Des Weiteren wirkt er in zahlreichen Kunst- und Künstlergremien mit.

2016 beginnt die Augenkrankheit, die sein Sehvermögen seitdem immer mehr schwächt. Im Frühjahr 2020 folgt die weltweite Pandemie. Die Kombination von beidem hat für den Künstler ungeahnte Folgen: „Aus Ansteckungsfurcht habe ich die Öffentlichkeit gemieden. Und wegen meiner fortschreitenden Augenkrankheit keine Kunstwerke mehr richtig wahrnehmen und selbst die Freunde nicht mehr erkennen können“, so Siegfried Neuenhausen. Beides führt bei ihm nun zu großer Konzentration auf die künstlerische Arbeit in den eigenen vier Wänden. Sind bislang Pinsel und Stoffe, Metall und Keramik die Mittel seines kreativen Ausdrucks, werden es nun Papierscheren, Pritt-Kleber und Filzstifte.

Zweckfrei und spielerisch

Am großen Ateliertisch huschen dazu Siegfried Neuenhausens Hände mit zahlreichen Schnipseln über den großformatig und jungfräulich leeren Papierbogen. Weiße und schwarze Streifen oder aber Motive landen nun nach und nach auf dem Blatt. Neuenhausen beugt sich vornüber, verschiebt, dreht und fixiert sie mit Klebestift oder entfernt die Fragmente auch wieder. „Es ist ein anarchisches Spiel mit allem Möglichen, das mich interessiert – und mit ungewissem Ausgang“, fühlt er sich in seinem lebenslangen Denken und Handeln als „Spieler und Spielverderber“. Im zweckfreien spielerischen Prinzip liegt für ihn die große Freiheit und künstlerische Inspirationskraft. Die in Form und Motiv unterschiedlichen Schnipsel hat er jedoch bedarfsweise griffbereit in Holzkästen vorsortiert, um „schnell diejenigen Fragmente zu finden, die ich gerade brauche“, beschreibt er sein tägliches Recycling von Papiermüll zu künstlerischem Rohstoff. „In den farbigen Collagen kann ich Details nicht mehr erkennen und kontrolliert einsetzen. Aber ich bin mir in der Beurteilung des Großen und Ganzen immer ziemlich sicher.“ Siegfried Neuenhausen tauft dies „präzise Ungenauigkeit“. „Statt der Details nehme ich vor allem die Gliederung und Konstruktion des Ganzen und dessen Stimmung wahr“, beschreibt er die ganz persönliche Sichtweise auf seine künstlerische Arbeit. Zumindest bis zum 100. Geburtstag in acht Jahren plant er diese ja schon voraus.

Text und Fotos: Torsten Lippelt


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