Geschichte einer Rückkehr:
Als Teenager war Nora Khuon in Hannover die Intendantentochter –
nun ist sie selbst im künstlerischen Leitungsteam.
Text: Jörg Worat; Bilder: Moritz Küstner & Kerstin Schomburg
Stellvertretende Intendantin am Schauspiel Hannover? Klar. Zuständig für das Junge Schauspiel im Haus? Auch das. Chefdramaturgin? Nein, diesen Begriff hört Nora Khuon weniger gern: „Wir nennen es die ,Leitende Dramaturgin‘. Es geht uns darum, dass alle Abteilungen eng zusammenarbeiten – da passt die Chefsache nicht so richtig hinein.“
Khuon: Das ist natürlich ein Name mit einem gewissen Klang in der Theaterwelt. Noras Vater Ulrich war von 1993 bis 2000 Intendant in Hannover und ist jetzt in gleicher Funktion am Deutschen Theater Berlin tätig, Bruder Alexander hat als Schauspieler für Furore gesorgt. Allerdings sieht sich die 39-Jährige keineswegs als Spross einer klassischen Theaterfamilie: „Meine Mutter war Lehrerin für Deutsch und Englisch, und vor meinem Vater gab es im Stammbaum keinen, der sich mit Schauspiel beschäftigt hätte.“
Nora Khuon ist in Konstanz geboren und kam im Alter von 13 nach Hannover. Hier beeindruckten sie nachhaltig Aufführungen wie Ödön von Horváths „Kasimir und Karoline“ oder Dea Lohers „Fremdes Haus“, beides im typisch intensiven Regiestil von Andreas Kriegenburg. Und schließlich war der Teenager sogar selbst mehrfach auf der Bühne zu erleben – wohl am spektakulärsten bei „I Hired A Contract Killer“ nach dem Film von Aki Kaurismäki, ebenfalls eine Kriegenburg-Inszenierung, die den Bayerischen Theaterpreis erhielt. Leckt man da nicht Blut? „Es hat viel Spaß gemacht“, sagt Nora Khuon, „aber ich habe schon früh gemerkt, dass meine Zukunft nicht in der Schauspielerei liegt.“
Nora Khuon: „In Hannover lebt man in der Zeit“
Tatsächlich hatte die vielseitige junge Dame einst ganz andere Ideen im Kopf, beispielsweise hat sie mit einer Laufbahn als Kinderärztin geliebäugelt, und selbst während des Studiums der Kulturwissenschaft und Neueren Deutschen Literatur in Berlin war noch keineswegs klar, wohin der Weg führen würde: „Ich dachte damals über alles Mögliche nach, Arbeit im Verlag, in einer Stiftung oder beim Film.“ Aber: „In Berlin habe ich viel Theater geschaut, Percevals Inszenierungen hatten mich enorm gepackt, Pollesch oder auch Sarah Kane fand ich grandios. Ich assistierte dann bei Regisseur Stephan Kimmig und merkte, dass es eben doch das Theater ist, was mich brennen ließ.“
Gedacht, getan. Es folgten Tätigkeiten als Dramaturgin in Hamburg, Frankfurt und Weimar, bevor Neu-Intendantin Sonja Anders Nora Khuon zu Beginn der vergangenen Saison zurück nach Hannover holte. Die spricht dieser Stadt besondere Qualitäten zu: „Frankfurt ist stark von ständiger Veränderung geprägt, in Weimar dreht sich vieles um die Vergangenheit. In Hannover lebt man eher in der Zeit.“
Apropos Zeit: Die ist ja in der Corona-Krise eine spezielle Sache, wenn plötzlich allerorten das erzwungene Innehalten in den Vordergrund tritt. „Ich sehe darin auch eine Chance“, sagt Nora Khuon. „Die Chance, neu zu denken, nach Alternativen im Zusammenleben zu suchen. Und nicht zuletzt ist das Theater genau der richtige Ort, um solche Alternativen zu reflektieren.“ Also besteht genügend Anlass für Hoffnung? „Auf jeden Fall. Ich gebe sehr ungern auf. Mich interessiert die konkret übersetzte Hoffnung, die konkrete Utopie.“
Aktuelle Entwicklungen im hannoverschen Schauspiel
Wie ist denn der Blick auf die laufende Saison? Bei einigen Produktionen hat Nora Khuon selbst die Dramaturgie übernommen, das war etwa bei der deutschsprachigen Erstaufführung von Clare Barrons Stück „Dance Nation“ der Fall. Hier geht es um eine junge Truppe, die einen Tanzwettbewerb gewinnen will und sich als Thema den Spirit Mahatma Gandhis vorgenommen hat. Womit wir wieder bei den Alternativen wären: „Welche Lebensentwürfe sind denkbar, wie findet man eine Balance zwischen Individualität und Gemeinschaft? Und weil das Fragen sind, die nicht nur Jugendliche betreffen, haben wir die Rollen quer durch die Generationen besetzt.“ Eine ähnliche Durchmischung wünscht man sich übrigens in den Zuschauerreihen – das hannoversche Schauspiel folgt schon seit Längerem und völlig zu Recht der Devise, dass gutes Jugendtheater gleichermaßen Erwachsene ansprechen müsse.
Das Böse und wie man damit umgeht
Auch bei „Bilder deiner großen Liebe“ nach dem unvollendeten Roman von Wolfgang Herrndorf ist Nora Khuon als Dramaturgin beteiligt, die Premiere ist für den 15. Januar 2021 geplant: „Die Sprache des Autors ist etwas ganz Besonderes. Er bringt alle Facetten darin unter, auch in den düsteren Beschreibungen liegt immer so etwas wie Kraft und Schönheit.“ Die Geschichte handelt von Isa, 14 Jahre alt und frisch aus der Psychiatrie entwichen – weibliche Hauptfiguren spielen im Konzept von Intendantin Sonja Anders erklärtermaßen eine große Rolle, und auch Nora Khuon interessiert sich sehr für die entsprechende Perspektive: „Ich fand es sehr spannend, als wir in der vergangenen Spielzeit aus Tschechows Platonow eine Platonowa gemacht haben.“
Und warum sollte Robin Hood nicht als Mädchen den Mächtigen dieser Welt die Stirn bieten? Die Dramaturgin hat höchstselbst dafür gesorgt, schreibt sie doch zusammen mit Markus Bothe Familienstücke – erfolgreich, die Uraufführung der Parsifal-Bearbeitung erhielt 2010 den begehrten „Faust-Preis“ für die beste Kindertheater-Inszenierung.
Unterhaltsam sollen ihre eigenen Stücke schon sein, sagt Nora Khuon: „Aber nicht oberflächlich. Bei uns geht es grundsätzlich um Außenseiter, die sich behaupten müssen.“ Und ein völlig ungetrübtes Happy End fällt hier aus: „Weil Markus und ich glauben, dass es das Böse immer geben wird. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht.“
Machen wir mal Pause vom Theater: Hat Nora Khuon Hobbys? „Ich habe Kinder“, lautet die Antwort. Vater der 7-jährigen Frida und des 4-jährigen Felix ist Nils Wendtland, Leiter der Abteilung Kommunikation und Marketing am hannoverschen Schauspiel, und so schließt sich gewissermaßen der Kreis: Wächst hier nicht doch eine Theaterfamilie heran? Für die Dramaturgin deutet allerdings aktuell wenig darauf hin, dass der Nachwuchs in absehbarer Zeit dauerhaft auf, vor oder hinter der Bühne zu erleben sein wird: „Das begreifen die noch gar nicht richtig als Beruf …“