Hannovers Oper startete mit „Mefistofele“ von Arrigo Boito in die neue Spielzeit: Eindrücke von der heftig beklatschten Premiere.
Text: Heike Schmidt Fotos: Sandra Then
Gott und Satan auf der Bühne: Man kann nun wirklich nicht behaupten, dass sich die hannoversche Staatsoper zum Saisonauftakt mit Nebensächlichkeiten aufhalten würde. In Arrigo Boitos „Mefistofele“ geht es um die Mächte des Guten wie des Bösen und um die Position des Menschen in diesem Spannungsfeld. Beim Namen Boito mögen zunächst dessen Libretti in den Sinn kommen, vor allem diejenigen zu „Otello“ und „Falstaff“ von Giuseppe Verdi. Tatsächlich ist „Mefistofele“ die einzige vollendete Oper, bei der Musik und Text gleichermaßen aus der Feder des italienischen Multitalents stammen – und ihr Inhalt scheint heute aktuell wie eh und je. Ja, es ist die Geschichte von Goethes „Faust“, und zwar von beiden Teilen. Wer jetzt allerdings, womöglich mit leichten Anflügen von Panik, an Peter Zadeks 21-Stunden-Inszenierung denkt, die auf der hannoverschen Expo Premiere feierte, kann sich beruhigen: Die Angelegenheit dauert gerade einmal rund 160 Minuten inklusive Pause.
Mefistofele bekommt eine starke Überarbeitung
Und obwohl an diesem Abend mit Solisten, Orchester, Chor, Extrachor, Kinderchor und Statisterie im wörtlichen Sinne Hundertschaften zugange sind, wirkt er doch schlank. Boito selbst hatte aus dem kolossalen Misserfolg der länglichen Uraufführung 1868 seine Lehren gezogen und sieben Jahre später eine stark überarbeitete, verkürzte Fassung auf die Bühne gebracht. Wer also auf Auerbachs Keller oder Auftritte des Kaisers erpicht ist, wird nun eine Enttäuschung erleben.
Chöre der Extraklasse
Immerhin gibt es hier einen echten Pudel. Mefistofele geht mit ihm zu Beginn Gassi und scheint zu allem anderen Lust zu haben als dazu, sich einmal mehr mit seinem himmlischen Widersacher auseinanderzusetzen. Vergebens – die Begegnung bleibt nicht aus, und Regisseurin Elisabeth Stöppler bringt hier ihre vielleicht mutigste Entscheidung ins Spiel, indem sie Gott, anders als vom Komponisten vorgesehen, leibhaftig auftreten lässt. Dabei nimmt sie einer möglichen Genderdebatte den Wind aus den Segeln und schickt für diese Sprechrolle Heinrich Horwitz ins Rennen, eine Person, die sich selbst als nichtbinär identifiziert (Vater ist übrigens Schauspieler und Sänger Dominique Horwitz).
Tatsächlich funktioniert das gewagte Unterfangen, weil dadurch Himmlisches und Höllisches eine Erdung bekommen – Gott und Teufel schweben hier nicht in ihrem eigenen Orbit ohne direkten Bezug zur Menschheit, und beide haben ihr jeweiliges „Metier“ keinesfalls ständig voll im Griff.
Der Prolog im Himmel ist schon von Boito kräftig ausgedehnt, und die Inszenierung lässt seiner Entwicklung durchaus Zeit. Bevor die Sache allerdings ins Kaugummiartige umkippt, nimmt sie doch beträchtlich Fahrt auf, und in der Folge zeigt die Regisseurin zusammen mit ihren Ausstatterinnen Jana Findeklee und Joki Tewes, was die Oper in Hinblick auf Besetzung und Werkstätten zu bieten hat. Dass etwa die hiesigen Chöre Extraklasse sind, ist keine Neuigkeit – Lorenzo Da Rio, seit 2017 ihr Direktor, konnte diesbezüglich an eine bewährte Tradition anknüpfen. Und der von Tatiana Bergh geleitete Kinderchor bezaubert gerade dadurch, dass er nicht auf bezaubernd getrimmt wirkt.
Gewaltige Bilder und große Stimmen
Die Kostüme decken die volle Bandbreite ab, sind mal spooky, mal glamourös und mal das genaue Gegenteil – wenn alle beigefarbene Ganzkörper-Anzüge tragen, werden sämtliche Grenzen verwischt, einschließlich derjenigen zu den vermeintlich übergeordneten Kräften. Auch im Bühnenbild funkelt es zuweilen kräftig; außerdem taucht in verschiedenen Stellungen ein ZehnMeter-Riesenbaby auf, dessen Verwendung allerdings so richtig nur in der Kerkerszene einleuchtet: Hier muss sich Gretchen, bei Boito „Margherita“ geheißen, mit der Beschuldigung des Kindesmordes auseinandersetzen.
Bass Shavleg Armasi ist in der Titelrolle eine Idealbesetzung, auch und gerade, weil er eine gewisse Distanz zur Figur entwickelt und nicht zwanghaft das Dämonische heraushängen lässt; darüber hinaus besticht seine facettenreiche Intonation. Klar und glaubwürdig agiert Sopranistin Barno Ismatullaeva in der Doppelrolle von Margherita und Elena, wenngleich sie punktuell arg viel Druck auf den Kessel bringt. Tenor Pavel Valuzhin als Faust hat eine recht undankbare Aufgabe, steht seine Figur in dieser Setzung doch nur mit Einschränkungen im Fokus – seine Stimmführung wirkt etwas diffus und in den Höhen nicht immer sauber. Valuzhins Duett mit Ismatullaeva in der Kerkerszene gehört allerdings zu den Höhepunkten des Abends. In weiteren Rollen von Wagner über Marta bis zur Sirene agieren Philipp Kapeller, Monika Walerowicz und Beatriz Miranda grundsolide.
Premiere von Mefistofele wird mit Musik von Stephan Zilias begleitet
Generalmusikdirektor Stephan Zilias auf dem Pult kitzelt aus dem Niedersächsischen Staatsorchester alles heraus, was hier möglich ist: Die Musik mit ihren teils italienischen, teils deutschen Einflüssen besticht weniger durch großen Tiefgang, ist aber effektvoll, zuweilen recht originell und sogar einen Tick verspielt.
Am Schluss erntet der Abend im – übrigens nicht ausverkauften – Opernhaus langen und lauten Applaus des Premierenpublikums. Das ist auch verdient, denn er kommt unterhaltsam daher und stellt gleichzeitig große Fragen: Hat Gott den Menschen erschaffen oder umgekehrt, und welche Möglichkeiten der Selbstbestimmung gibt es? Auch und vor allem im Kampf gegen das Böse.