In der Ausstellung „Daily Bread“ der Ukrainerin Zhanna Kadyrova, geht es um mehr als nur Material. Sie schafft Erinnerungs-Stoff.
Text: Jörg Worat, Fotos: Mathias Voelzke
Die Kleidungsstücke sind mit „Second Hand“ betitelt, doch wer sie in der Hoffnung auf ein Schnäppchen anprobieren möchte, stößt auf unüberwindbare Schwierigkeiten: Die mit Keramik-Kacheln besetzten Flachteile, die da in einem Metallgerüst hängen, bieten keinen Raum zum Hineinschlüpfen, von der Unbequemlichkeit des Materials ganz zu schweigen. Aber wir befinden uns ja auch nicht in einer Boutique, sondern im Kunstverein Hannover, und der neue Direktor Christoph Platz-Gallus hat die 2015 entstandene Serie zu seinem aktuellen Lieblingskunstwerk erklärt.
Sie gehört zu der ersten von ihm selbst konzipierten Ausstellung, die „Daily Bread“ heißt und die Debüt-Retrospektive der Ukrainerin Zhanna Kadyrova, Jahrgang 1981, darstellt: „Ich halte sie neben Nikita Kadan für die wichtigste künstlerische Stimme ihrer Generation in diesem Land“, sagt Platz-Gallus. „Mich beeindruckt ihr spezieller Umgang mit Material, und ,Second Hand‘ gehört zu den prägnantesten Arbeiten.“
Die sich allerdings ohne Hintergrundwissen wohl kaum erschließt. Bei Zhanna Kadyrova spielt stets eine entscheidende Rolle, woher die verwendeten Materialien stammen. Arbeiten der Serie „Second Hand“ sind über einen längeren Zeitraum entstanden und beziehen sich auf verschiedene Orte – in diesem Fall hat die Künstlerin die verschiedenfarbigen Kacheln der ehemaligen Darnitski Seidenfabrik in Kiew entnommen, die 1947 gegründet wurde und während der 70er-Jahre die größte Textil-Produktionsanlage der Sowjetunion darstellte: Mehr als 6.000 Menschen, überwiegend Frauen, arbeiteten hier. Als Besonderheit gab es vor Ort auch Erholungsanlagen, Büchereien und sogar ein Gewächshaus – man fühlt sich bei solchen Schilderungen an die Pläne für die „TET-Stadt“ erinnert, die Hermann Bahlsen in den 1910er-Jahren für seine hannoverschen Arbeiter errichten lassen wollte. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion verfiel die Seidenfabrik, seit 2002 befindet sich auf Teilen des Areals ein Einkaufszentrum.
Zhanna Kadyrova verfolgt tiefgründige Gedanken
„Bei ihrer Arbeit geht es Zhanna Kadyrova in erster Linie um die Erinnerung an diesen besonderen Ort“, betont Platz-Gallus. „Die Wertung von Gesellschaftssystemen steht hier nicht im Vordergrund.“ So stammt von der Künstlerin auch eine Fotoserie, für die sie ihre gekachelten Kleidungsstücke an Wände des Ursprungsorts gehängt hat. Abgesehen von solchen Brückenschlägen zwischen damals und heute fasziniert den Kunstvereins-Direktor die Materialität dieser Werkgruppe gerade wegen einer ausgeprägten Gegensätzlichkeit: „Die Kleidungsstücke beziehen sich auf eine Seidenfabrik, wo besonders leichte Stoffe hergestellt wurden. Die Kacheln sind jetzt aber um einen Beton- oder Stahlkern aufgebracht, es handelt sich also um extrem schwere Arbeiten.“
Platz-Gallus hatte dem Werk von Zhanna Kadyrova schon vor dem Beginn des Kriegs in der Ukraine sein Augenmerk gewidmet, nun kommen aber neue Dimensionen hinzu. Denn nach der zwischenzeitlichen Flucht mit der Familie ist die Künstlerin mittlerweile nach Kiew zurückgekehrt: „Und sie vermittelt uns auf ihre ganz eigene Art, was sie in der Heimat vorfindet“, sagt der Kunstvereins-Direktor. Das geschieht dann etwa in Gestalt von geometrischen Objekten, die aus der Ferne sogar eine wohlgefällige Ästhetik entwickeln können – beim Nähertreten sieht man jedoch, dass sie aus durchschossenem Metall bestehen.
Es gibt noch sehr viel mehr in dieser Schau zu sehen, die aus gutem Grund überregional Aufmerksamkeit erregt hat. Dem Besucher sollte allerdings klar sein: Leichte Kost ist sie nicht.