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Immer etwas Neues

12. November 2020

Eine ungewöhnliche Stimme und eine ebenso besondere Biographie: Die Sängerin TINATIN verschafft sich Gehör.

Text: Jörg Worat   Fotos: Iris Klöpper
Souljazzpop: Was mag das sein? Mit diesem Begriff umreißt jedenfalls Tinatin Tsereteli ihr Genre. Die hannoversche Sängerin, deren Vor- zugleich ihr Künstlername ist, hat jetzt ihr erstes Album vorgelegt. Es heißt „Alles zu seiner Zeit“ und spiegelt eine Vielzahl von Stimmungen wider.
Da ist schon mal von den „stumpfen Spitzen der Melancholie“ die Rede oder von einer sehr persönlichen Enttäuschung mit „Lügen, Lügen, Lügen“, aber letztlich treten doch viel Ener­gie und eine gehörige Portion Selbstbewusstsein in den Vordergrund: „Ich lehn‘ mich auf, ich breche auf“, heißt es etwa in dem Song „Aus der Stille heraus“. Diese Texte nur zu lesen, nützt nicht viel – man muss sie schon von der Sängerin mit ihrem sehr speziellen Timbre vorgetragen hören.
„Tinatin“ heißt so viel wie „Sonnenstrahl“, und im Gespräch setzt sich bei der 38-Jährigen tatsächlich immer wieder eine Art Grundoptimismus durch: „Mein Survival Kit“, merkt sie dazu an. Denn nicht nur sind die Zeiten für Kunstschaffende bekanntlich gerade alles andere als rosig, der Weg der Musikerin war auch keineswegs frei von Beschwernissen.
Sie ist in der georgischen Hauptstadt Tiflis geboren, und zwar als Tochter von Berufsmusikern: die Mutter Cellistin, der Vater Kontrabassist. „Bei den Proben war ich oft mit meinen beiden Schwestern im Orchestergraben“, sagt Tinatin, die fast logischerweise ebenfalls früh Instrumente lernte: mit fünf Jahren Violine, mit sechs Klavier. In die Freude am Musikmachen mischten sich bei diesen Erfahrungen allerdings angesichts einer sehr strengen Geigenlehrerin auch trübe Momente – sicherlich mit ein Grund dafür, dass Tinatin, als sie später selbst Kinder unterrichtete, Wert auf eine unverkrampfte Atmosphäre legte.

Schwere Zeiten

Im Alter von zehn Jahren kam der große Bruch in ihrem Leben. Als sie mit Mutter und Schwester eine kranke Tante in Deutschland besuchte, brach zu Hause der Bürgerkrieg aus – eine Rückkehr der Teilfamilie war unmöglich, Tinatin fand sich im Flüchtlingsheim wieder. Eine schwere Zeit der Entbehrungen und der Diskriminierung, auch bei Gleichaltrigen: „Ich sprach kein Deutsch, sah nicht aus wie eine Deutsche. Und Kinder können sehr gemein sein.“
Aber eine pensionierte Lehrerin erkannte Tinatins Potenzial, sodass der Besuch eines Gymnasiums in Hagen möglich wurde. Der Silberstreif am Horizont verbreiterte sich, und langsam nahm die Musik, die zwischenzeitlich notgedrungen fast völlig brach gelegen hatte, wieder den angestammten Platz ein. Und wurde zum Hauptlebensinhalt: Es folgten ein Gesangsstudium „Pop/Rock/Jazz“ in Hildesheim, gekoppelt mit Studiengängen der Kulturwissenschaften und Musikethnologie, und die Übersiedlung nach Hannover.
Hier ist sie auf breiter Front aktiv, unterrichtet unter anderem am Music College und knüpft Netzwerke, etwa im Rahmen von „Music Women Hannover“, einer Initiative, bei der sie mit lokalen Größen wie Tokunbo Akinro oder der auch als Schauspielerin bekannten Denise M‘Baye zusammen­arbeitet.
Vor zwei Jahren reifte der Entschluss, sich als Sängerin/Songwriterin mit eigener Band einen Namen zu machen. Was schnell zu Erfolgen führte: Die fünfköpfige Truppe wurde von der internationalen Jury der „Unesco Cities of Music“ ausgewählt, Hannover bei Festivals in Italien und Tschechien zu vertreten. Vor Ort, nämlich im Astor Grand Cinema, soll sie das nächste Mal am 3. Dezember zu hören sein.

Live im Studio

Das Album mit den selbstgeschriebenen Songs wurde, etwas gewagt, produziert, während das Crowdfunding noch lief, und unmittelbar vor dem Corona-Lockdown fertiggestellt. Binnen einer Woche spielte die Band zehn Titel in den renommierten Peppermint-Park-Studios ein, und zwar im One-Take-Verfahren: „Wir wollten möglichst so etwas wie eine Live-Atmosphäre bewahren.“
Die Texte sind durchweg auf Deutsch gehalten – ist das in diesem Genre nicht eher eine schwierige Übung? „Man muss schon daran arbeiten, der Sprache eine gewisse Eleganz abzugewinnen. Bei englischen Texten ist das sicher einfacher, kann dann aber auch schnell oberflächlich werden.“
Teutonische Analysierfähigkeit ist Tinatin eben mittlerweile zur zweiten Natur geworden und mischt sich mit georgischem Temperament, das sie selbst als „feurig“ bezeichnet. Fliegen bei ihr auch schon mal die Fetzen, Fäuste oder Teller? „Das nicht, aber ich kann richtig laut werden.“ Und was ruft solchen Ärger hervor? „Ungerechtigkeiten aller Art.“
Beruflich am Ball zu bleiben, erfordert gerade in diesen Wochen viel Energie, und außerdem gilt es, sich angemessen dem achtjährigen Sohn Ilia zu widmen, weshalb die Frage nach Hobbys zurzeit nicht gar zu ausufernd beantwortet werden kann. Tinatin liest gern, hatte schon mal mit der Übersetzung von georgischen Autoren angefangen und schätzt bei den deutschsprachigen besonders Max Frisch: „Er hat die Menschen sehr genau beobachtet und auch entlarvt.“ Zukunftspläne umfassen unter anderem, Tango und Segeln zu lernen, außerdem bekennt die Sängerin Interesse an Kulinarik: „Da entdecke ich immer wieder gern etwas Neues.“ Und das klingt doch schon fast wie ein Lebensmotto.

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