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Giulietta wird erwachsen

14. November 2023

Text: Heike Schmidt, Foto: Sandra Then

Premiere für „Romeo und Julia“ an der Oper. Warum diese Inszenierung aktueller denn je ist und man sie unbedingt gesehen haben sollte. Unterschiedlicher könnten die beiden nicht sein: Giulietta liebt ihre Familie. Sie ist der Tradition verhaftet. Sie möchte, dass alles bleibt, wie es ist. Sie möchte auch dort bleiben, wo sie ist – in ihrer vermeintlich heilen Welt, die sie sich manchmal so ausmalt wie das Gemälde des Paradieses, unter dem sie sich gerne einmal versteckt.

Romeo und Giulietta auf der Suche nach Frieden

Romeo hingegen schaut über den familiären Tellerrand hinaus. Er will Frieden. Er will Giulietta. Doch das wird nur funktionieren, wenn sie ihre Familie, ihre Tradition und das Bild ihrer vermeintlich heilen Welt verlässt und mit ihm in eine neue Welt aufbricht. Bei aller Liebe: Kann das gut gehen?

In der Hannoverschen Staatsoper hatte jetzt Vincenzo Bellinis Oper „I Capuleti e i Montecchi“ Premiere. Es geht um Romeo und Julia, die in der Opernversion Giulietta heißt. Anders als in der Shakespeareschen Version erzählt diese Oper von den letzten 24 Stunden des Liebespaares. Keine romantische Kennenlernphase. Kein Fensterln in Verona. Die beiden sind in dieser Version schon länger ein Liebespaar. Es geht um eine gemeinsame Zukunft – in Frieden. Doch die Welt ist in Aufruhr und im Umbruch.

Ein barocker Bilderrahmen als Bühnenkunstwerk

Ein großer barocker Bilderrahmen umspannt die Bühne. An einer Seite ist er noch golden, an der anderen schon grau und abgeschabt. Die Bühne wird zum lebendigen Gemälde. Die Bilder darin werden sich immer wieder ändern. Wenn Giulietta beispielsweise in ihrem Teenager-Zimmer von Romeos großer Liebe träumt, schweben überlebensgroße Papageien ins Bühnenbild. Die Vorlage dazu stammt aus einem Gemälde, das an Jan Breughels d. J. „Paradieslandschaft mit Erschaffung der Tiere“ erinnert und das schon zu Beginn der Inszenierung in einer Ecke steht. Doch die Papageien, die in Giuliettas Zimmer schweben, sind verfremdet. Das Paradies, von dem Giulietta träumt, ist eine Illusion. Doch sie liebt dieses Bild. In einer Szene wird sich Julia das kleine gerahmte Bild nehmen und darunter kriechen wie unter eine Bettdecke. In einer anderen wird sie es zerreißen. Doch noch ist es nicht so weit.

Kollision der Epochen

Romeo möchte den Krieg beenden. Er möchte diese Szene, die sich mehrfach wie ein Albtraum wiederholt, hinter sich lassen: Ein Panzer fährt im Hintergrund der Bühne auf. Ein traditionell-barock gekleideter Söldner kommt hervor und erschießt Giuliettas Bruder. Die uralte Fehde soll ein Ende finden. Romeo will Frieden. Doch Giuliettas Eltern lehnen ab. Sie haben andere Pläne: Ihre Tochter soll den neuen Heerführer ehelichen, um den Gegner endgültig im Krieg zu besiegen.

Hier prallen zwei Welten aufeinander: die eine, traditionelle, die andere, die Aufbruch und Versöhnung möchte. Dies wird auch anhand der Kostüme deutlich: Während Giuliettas Eltern wortlos in korsettsteifen Kostümen auftreten, ist Romeos Gefolgschaft moderner gekleidet. Romeo trägt als Friedensbringer einen weißen Anzug mit einem goldglänzenden Hemd. Julia trägt Kapuzenpulli und Plisseerock. Farblich ist sie genau die Mischung ihrer Eltern: ihre Mutter trägt Rot, der Vater Blau, ihre Kleidung ist violett.

Zwischen Tradition und Moderne

Giulietta ist die modernere Version ihrer Eltern: Doch wird es Giulietta gelingen, ihre traditionelle Welt, die ihr auch Sicherheit gibt, hinter sich zu lassen, um dem Geliebten zu folgen? Immer wieder kommt es mit Romeo zu Szenen, in denen er ihren Koffer ein- und sie ihn wieder auspackt. Aufbruch, Rückzug. Wird es ein Ende finden? Ja, aber bis dahin wird noch jemand sterben.

Die Inszenierung von Michael Talke ist vielschichtig und an manchen Stellen erschreckend aktuell. Zwei Welten prallen aufeinander – die traditionelle und die moderne. Beide scheinen unüberbrückbare Differenzen zu haben. Selbst für Liebende ist es nicht einfach, diese zu überwinden. Dass die Innigkeit dieser Liebe immer wieder deutlich wird, ist den beiden Hauptdarstellerinnen zu verdanken: Meredith Wohlgemuth als Giulietta und Nina van Essen als Romeo – diese Rolle ist von Bellini als Mezzosopran vorgesehen – sind die Highlights des Abends.

Entwicklung einer Liebe

Man kann die Entwicklung Giuliettas quasi spüren. Sie wird vom elternverhafteten Teenager zur jungen Frau mit eigenen Vorstellungen. Romeo ist in der Hinsicht weiter. Der warme Klang des Mezzosoprans unterstreicht nicht nur die ruhige Weitsicht, an manchen Stellen hat er fast etwas mütterlich-beschützendes, was zur Anlage der Figur unglaublich gut passt. Gegen dieses weibliche Duo können die Männer Marco Lee, Jakub Szmidt und Markus Suihkonen kaum eine Chance haben. Das Orchester zaubert sanfte wie kräftige Momente; besonders schön sind aber die romantischen Momente. Einer davon ist beispielsweise das Harfen-Solo.

Solo bleibt am Ende auch Romeo. Er stirbt. Giulietta hingegen tut das, was eine Traviata in der Oper Hannover auch schon gemacht hat: Sie stirbt nicht. Sie schnappt sich ihren gepackten Koffer und verlässt die Bühne. Sie ist erwachsen geworden.

Fazit: Diese Version von „Romeo und Julia“ sollte man unbedingt gesehen haben. Sie ist vielschichtig, aktuell und erzählt auch die wunderbare Entwicklung eines Teenagers zum Erwachsenen.

MUSIKALISCHE LEITUNG Andrea Sanguineti / Masaru Kumakura

INSZENIERUNG Michael Talke

BÜHNE Thilo Reuther

KOSTÜME Agathe MacQueen

LICHT Holger Klede / Andreas Rehfeld

CHOR Lorenzo Da Rio

DRAMATURGIE Sophia Gustorff

XCHANGE Matthias Brandt

CAPELLIO Daniel Eggert / Jakub Szmidt

GIULIETTA Meredith Wohlgemuth

ROMEO Nina van Essen

TEBALDO Marco Lee

LORENZO Markus Suihkonen

Chor der Staatsoper Hannover,

Statisterie der Staatsoper Hannover,

Niedersächsisches Staatsorchester Hannover

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