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Eine schwierige Entscheidung

09. September 2024

Die Zeiten haben sich geändert, aber die Themen sind geblieben. Mehr als 400 Jahre nach der Uraufführung von William Shakespeares Drama „King Lear“ dreht es sich auch bei der Neu-Inszenierung am Schauspielhaus Hannover um Liebe und Hass, Machtmissbrauch und Machtverlust, um Mord und Intrigen, um Fake News, Lügen und Missverständnisse. Ausgang der Handlung ist die gleiche Situation wie im Stück des Dichters aus Stratford – Probleme mit der Unternehmensnachfolge.

Eine herausfordernde Entscheidung, der sich auch im Hier und Jetzt unzählige kleine und große Herrscher in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft stellen müssen. König Lear hat drei Töchter und möchte sein Reich an sie übergeben, er wird älter, schwächer und leider auch schon etwas dement. Nur welche der Töchter soll es sein? Er will eine emotionale Entscheidung treffen und befragt seine Töchter nach dem Grad ihrer Liebe. Zwei schmeicheln ihm und erhalten das Erbe, die jüngste, sein bisheriger Liebling Cordelia, bleibt ehrlich, bezeugt ihre Liebe zum Vater, ohne zu schleimen, wie wir heute sagen würden, und wird verstoßen. Soweit Shakespeare.

Das Stück in Hannover, bei dem Stephan Kimmig Regie führt, versucht, den klassischen Stoff in die Gegenwart zu übertragen. Es verwendet die Übersetzung und Bearbeitung des Schriftstellers und Dramatikers Thomas Melle aus dem Jahr 2019. Dadurch hat der Text nur noch wenig Ähnlichkeit mit der, besonders im englischen Original, durchaus drastisch-deutlichen, aber meisterlich geschliffenen Sprache. Hier wird jetzt neudeutsch geredet, geschrien und gepöbelt und die Waffen der Akteure sind nicht Schwerter und Degen, sondern Smartphones und Tablets.

Auch die Kernaussage wurde geändert. Statt des Patriarchats, wie im Original, „scheint hier das Matriarchat greifbar nahe, doch statt einer utopischen Solidarität wenden sich die Protagonistinnen in erlernten patriarchalischen Strukturen gegeneinander“, steht dazu im Programmheft. Die beiden herrschenden und bösen Schwestern Regan und Goneril agieren mit durchaus männlich anmutender Gewalt. Die dazugehörigen Ehemänner wurden eingespart, was das Ganze etwas übersichtlicher macht.

Die Rollen der Grafen Kent und Gloucester sowie die des Narren sind weiblich besetzt. Aus dem Vater Gloucester, der Probleme mit seinem ehelichen Sohn Edgar und dem illegitimen Edmund hat, der sich ungeliebt fühlt, wird so ein starker Mutter-Sohn-Konflikt.

Eine spannende Geschichte bis zur Pause. Danach gibt es einige Längen, aber es dauert ja auch eine Weile, bis alle tot sind. Im Original überlebt nur Edgar, in Melles Fassung sind es die Schwestern Regan und Goneril. Sie wollen gemeinsam weiter herrschen und lassen die Frage im Raum stehen, wie denn nun die Zukunft aussehen soll. „Und die Liebe? Die Liebe ist ein Gift. Jetzt ist alles möglich“, heißt es am Schluss.

Heute wäre das der Cliffhänger für eine zweite Staffel. Kulturminister Falko Mohrs, der gemeinsam mit Intendantin Sonja Anders vor dem Stück sprach, um die Spielzeit 2024/2025 zu eröffnen, sagte, es sei doch besser, wenn die Menschen ins Theater gingen, statt zuhause Netflix zu schauen. Nun, beides geht offensichtlich. Das Stück hat, besonders in der Version von Thomas Melle, durchaus das Zeug zur Netflix-Serie. Das bewies die durchweg positive Resonanz des jüngeren Publikums. Während einige ältere Besucher leise anmerkten: „Mit Shakespeare hat das aber nicht mehr viel zu tun…“, sagten andere nach dem Schlussapplaus versöhnlich: „Aber es ist doch schön, dass so eine Inszenierung so viele und vor allem junge Menschen ins Theater zieht!“ So ist es. Shakespeare wäre wohl begeistert.

Text: Beate Roßbach
Fotos: Katrin Ribbe

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