In der Artothek von Anke Pauli in Hannover kann man Originale ausleihen. Spezialität der Bilderleihstelle ist Kunst von Menschen mit Behinderungen oder psychischen Beeinträchtigungen.
Text: Julia Meyer-Hermann Fotos: Wolfgang Schmidt
Kaum hat man den Raum betreten, sieht man Rot. Blau, Orange, Grün und Pink. Ein wahres Farbspektakel! Die Gemälde können jeden noch so tristen Wintertag erleuchten.
Die Kunstwerke hängen in einem weiß getünchten Raum in einem Hannoveraner Hinterhofgebäude. Die Adresse ist ein Geheimtipp, was eigentlich erstaunlich ist, wenn man bedenkt, was für Schätze hinter der schweren Metalltür warten. Hier, in einer ehemaligen Bilderrahmenwerkstatt, befindet sich Hannovers Artothek, eine Kunstsammlung der besonderen Art.
Der Verein hat etwa tausend Gemälde in seinem Fundus, etwa 80 werden in den Ausstellungsräumen präsentiert. „Alle Kunstwerke sind Originale, und wem sie gefallen, der kann sie ausleihen“, fasst Anke Pauli das Prinzip der Einrichtung zusammen. 32 Euro kostet eine private Jahresmitgliedschaft. Für den Betrag kann man eines der Kunstwerke mit nach Hause nehmen und es dann drei Monate später wieder gegen ein anderes austauschen. „Wer sich unsterblich in ein Bild verliebt, kann es auch kaufen.“
Pauli, groß, schlank und mit eindringlichem Blick, ist die Leiterin der Artothek. Sie tritt an einen Bilderständer und zieht zielsicher eine etwa 80 mal 80 Zentimeter große Leinwand heraus. „Das Bild hier ist zum Beispiel ein All-time-favorite. Das ist eigentlich ständig verliehen und jetzt auch schon wieder reserviert“, sagt die Kunsthistorikerin. „Es ist von Herbert Schmidt und heißt ‚Frau Sonne‘.“ Auf der blau grundierten Leinwand sieht man unordentliche, beinahe dahingeschmierte Kreise in Petrol, Grün und Hellblau. Ganz entfernt erinnern sie an eine abstrakte, wüste Variante von Claude Monets „Seerosen“. Warum bloß heißt dieses Bild „Frau Sonne“?
Anke Pauli grinst und zuckt mit den Schultern. Auch das gehört zu den Besonderheiten ihrer Kunstsammlung: Manches erschließt sich dem Betrachter nicht. Muss es auch nicht. „Viele unserer Künstler haben geistige Behinderungen oder psychische Beeinträchtigungen“, erklärt Pauli. „Sie schaffen ihre Kunst außerhalb der gängigen Beurteilung und vollkommen unbeeinflusst von starren Kunstkategorien.“
„Outsider Artists“ nennt die Fachwelt diese Künstler und Künstlerinnen. Es sind Autodidakten, die sich oftmals gar nicht als „Künstler“ wahrnehmen. „Outsider Art“, „Raw Art“ oder „Art brut“ lauten die Begriffe, mit denen man ihre Werke charakterisiert. Die Artothek in Hannover setzt auf diese Kunstform und hat damit einen Schwerpunkt, der sie von anderen Artotheken in Deutschland abhebt.
Von der Idee zur Artothek
Die Kunstwerke der hier ausgestellten Outsider Artists entdeckte Anke Pauli vor sieben Jahren, als sie gerade beschlossen hatte, eine Artothek in Hannover zu eröffnen. 140 Artotheken gibt es inzwischen in Deutschland, die älteste entstand Anfang der 1950er-Jahre in Berlin. Pauli war der Liebe wegen nach Hannover gezogen und arbeitete damals in der Marketingabteilung des Zweckverbands für Abfallwirtschaft. Über ihre damalige Chefin lernte sie die Arbeit der Kreativschule „Ausdruck und Erleben“, kurz AuE, kennen.
Die Kunstschule arbeitete zu diesem Zeitpunkt bereits seit 20 Jahren mit Patienten mit psychischer Beeinträchtigung. Einmal pro Woche treffen sie sich im Atelier des Sprengel Museums. Die Arbeiten der AuE-Kreativschule lagern im Keller. Anke Pauli bekommt sie als Leihgabe zur Verfügung gestellt und ist beeindruckt von der Wucht dieser Werke.
Von ihrer unverfälschten Herangehensweise an die Welt, den Alltag und an Menschen. „Keiner dieser Künstler hat beigebracht bekommen, dass man etwas nicht machen kann. Keiner hat eine Schere im Kopf. Da hat beim Malen keiner über Richtig und Falsch nachgedacht“, sagt sie. Das Ergebnis sind hunderte Arbeiten, die in ihrer Unmittelbarkeit auch den Blickwinkel des Betrachters verändern.
Von Individualität und Intuition
Das Interesse an Outsider Art nimmt zu, sagt Anke Pauli. Auf dem Markt steigen Nachfrage und Preise. In den Museen und auf der Biennale werden Werke ausgestellt. Es gibt internationale Messen wie die „Outsider Art Fair“ in New York und Paris. Anke Pauli spürt diese Begeisterung auch bei ihren Kunden. Ihre Spezialisierung kommt gut an. Weil ihr Kundenstamm kontinuierlich wächst und optischen Input braucht, arbeitet Pauli daran, das Portfolio ihres Ausleih-Fundus zu erweitern. Sie kooperiert inzwischen mit einer Einrichtung in Braunschweig, der „Geyso20“: Dort bekommen Menschen mit einer Behinderung den Freiraum, auch ganztags – und außerhalb einer Therapie – künstlerisch zu arbeiten.
Außerdem hat Pauli einige Künstler ohne geistige Beeinträchtigungen in die Sammlung aufgenommen. Das entscheidende Kriterium: Die Künstler müssen in ihrer Herangehensweise an Kunst ungewöhnliche Wege und Perspektiven wählen. Serdar Seven zum Beispiel kreiert Collagen, in denen er scheinbar unpassende Elemente zu einem harmonischen Ganzen zusammenfügt. „Lyrische Kompositionen“ nennt Anke Pauli die Bilder des 42-Jährigen.
Oder Pia Danner: Die entdeckte Anke Pauli unter dem Hashtag #outsiderart auf Instagram. Eine Künstlerin aus Hannover, die sich selbst als Outsider Artist bezeichnet? „Streng genommen darf ich mich nicht so nennen“, sagt Pia Danner. „Ich habe keine psychische oder geistige Behinderung.“ Dass sie sich der Outsider Art verbunden fühlt, liegt zum einen daran, dass sie nicht aus dem akademischen Kunstbetrieb kommt. Die 46-jährige Hannoveranerin ist studierte Architektin. Zum anderen liegt es daran, dass sie intuitiv arbeitet. Immer, wenn es sie überkommt, malt sie wie im Rausch die Leinwände voll. Oft gab es vorher einen Auslöser, etwas, das sie gedanklich nicht loslässt.
Ihre Bilder kommen gut an in der Artothek Hannover. Sie fügen sich ein ins Gesamtkonzept und stechen dennoch in ihrer Individualität heraus – so wie eigentlich alles, was in dieser Hinterhofgalerie hängt.