Bessere Botschafterinnen für die Musikstadt Hannover kann man sich nicht vorstellen: Der Mädchenchor Hannover hat auch international jede Menge Furore gemacht. Nun feiert das vielfach ausgezeichnete Ensemble sein 70-jähriges Jubiläum. nobilis befragte drei aktuelle Chorsängerinnen und drei ehemalige, die auf unterschiedliche Art Karriere gemacht haben.
Interview und Text: Jörg Worat Fotos: Michael Plümer
Vier Fragen an …
… Elise Malcher, 17 Jahre, Stimmlage 2. Alt
Wie kamst du zum Singen?
Elise Malcher: Ehrlich gesagt war es eine ziemlich spontane Entscheidung seitens meiner Eltern. Sie haben eines Tages in der Zeitung den Aufruf zum Vorsingen gelesen, und am darauf folgenden Tag ging‘s relativ unvorbereitet zum Vorsingen. Ich war damals 7 Jahre alt und habe die Situation gar nicht richtig verstanden, auch nicht damit gerechnet, angenommen zu werden. Ein paar Tage später kam dann doch ein Brief mit der Zusage. Rückblickend bin ich meinen Eltern über die Entscheidung sehr dankbar, weil mich der Chor einfach in so vieler Hinsicht geprägt und über die Hälfte meines Lebens begleitet hat.
Hast Du den Eindruck, im Chor nicht nur gesangstechnisch etwas zu lernen, sondern auch allgemein Lebenserfahrung zu sammeln?
Elise Malcher: Ja, absolut! Allein bei den Konzertreisen, die ganzen verschiedenen Eindrücke von Kulturen und tollen Menschen, mit denen man in Verbindung kommt. Ich habe in diesem Chor wirklich Freunde fürs Leben gefunden. Außerdem lernt man natürlich, sich zu disziplinieren, denn ohne Disziplin stünde ich nicht an diesem Punkt in meinem Leben, an dem ich jetzt bin.
Welches waren deine Höhepunkte?
Elise Malcher: Meine Höhepunkte im Chor waren auf jeden Fall die Konzertreisen, der Mozart-Film und die NDR Klassik Open Airs, aber auch die Hannover Proms.
Planst Du, beruflich etwas zu machen, das mit Gesang zu tun hat?
Elise Malcher: Ich weiß noch nicht genau, was ich später beruflich machen möchte, allerdings wird, egal für was ich mich später entscheiden werde, die Musik immer ein wichtiger Bestandteil meines Lebens bleiben.
… Sophia von Drygalski, 18 Jahre, 2. Sopran
War das erste Vorsingen deine oder eher eine elterliche Entscheidung?
Sophia von Drygalski: Das erste Vorsingen war meine Entscheidung. In meinem Bekanntenkreis waren ein bis zwei Mädchen, die im Mädchenchor gesungen haben, und das fand ich total cool. Als das Vorsingen dann näher rückte, war ich super aufgeregt und wollte doch lieber zu Hause bleiben. Da kam meine Mama dann ins Spiel und hat mich, zum Glück, mit allen Mitteln überredet und mir Mut gemacht.
Was nimmst du bisher mit?
Sophia von Drygalski: Während der extrem prägenden Zeit im Kindes- und Jugendalter hat mich der Chor und die Gemeinschaft drum herum permanent begleitet. Der Chor war auf diesem Weg wie eine zweite Familie mit Freunden fürs Leben, mit denen man unglaubliche Erlebnisse, Konzerte und Reisen teilt. Darüber hinaus lernt man Disziplin, Durchhaltevermögen, vollste Konzentration, Kritikfähigkeit, verbunden mit großem Spaß am Musizieren.
Was waren deine Höhepunkte?
Sophia von Drygalski: Das war zum einen meine erste große Konzertreise nach Japan 2017: So eine Reise mit gerade mal 13 Jahren ohne Eltern mitmachen zu dürfen, ist schon etwas ganz Besonderes. Gerade die Unterbringung in Gastfamilien war eine völlig neue und gleichzeitig tolle Erfahrung, da man so den „fremden Kulturkreis“ ganz nah und intensiv kennenlernen konnte und unglaublich viele Eindrücke mitgenommen hat. Ein anderer Höhepunkt für mich war das Mitwirken in der „Zauberflöte“ im Opernhaus. Als einer von drei Knaben durfte ich über mehrere Spielzeiten hinweg richtig professionelle Bühnenerfahrung sammeln und neben renommierten Sängern singen.
Auch beruflich etwas mit Musik machen, wäre das was für dich?
Sophia von Drygalski: Beruflich würde ich zwar gerne in eine andere Richtung gehen, nämlich Medizin, allerdings wird mich das Singen mein Leben lang begleiten. Da bin ich mir sicher, dazu macht es zu viel Spaß. Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, auch mal in einem gemischten Chor zu singen, das wäre eine ganz neue und interessante Erfahrung.
… Helena Simon, 18 Jahre, 1. Alt
Wann warst du zum ersten Mal beim Mädchenchor?
Helena Simon: Ich habe 2009 das erste Mal an einer Aufnahmeprüfung für den Mädchenchor teilgenommen und zwar gemeinsam mit meiner älteren Schwester. Meine Eltern sind durch Freunde auf den Mädchenchor aufmerksam geworden und haben mich zum Vorsingen angemeldet. Beim ersten Mal wurde ich noch nicht aufgenommen, weil ich mit meinen sechs Jahren noch zu jung war. Beim erneuten Vorsingen ein Jahr später bin ich dann aufgenommen worden.
Welche Erfahrungen nimmst du bisher aus deiner Zeit beim Chor mit?
Helena Simon: Natürlich spielt das Musikalische eine große Rolle: In den zehn Jahren Chorarbeit habe ich gelernt, richtig mit meiner Stimme umzugehen. Meine Stimme hat sich auch aufgrund der wöchentlichen Einzelstimmbildung, sehr weiterentwickelt. Daher kann ich mich sowohl im Chor einfügen als auch solistisch auf der Bühne stehen. Aber das ist nicht das Einzige: Man lernt zum Beispiel, Verantwortung zu übernehmen. Ich bin seit drei Jahren im Chorrat, der die Verbindung zwischen Chorleitern und Chorsängerinnen darstellt, und organisiere einige Sachen mit. Zusätzlich lernt man, sich zu konzentrieren. Die dreistündige Samstagsprobe, in der eine sehr konzentrierte Atmosphäre herrscht, ist sehr anstrengend, viel anstrengender als Schulunterricht. Zudem habe ich das Gefühl, dass mein Selbstbewusstsein gestiegen ist.
Was waren deine Highlights?
Helena Simon: Das schönste Erlebnis für mich war, dass ich in Barcelona im berühmten Palau de la Música das Katzenduett von Rossini mit meiner Chorfreundin gesungen habe. Das war einfach ein Gänsehautmoment. Weitere Höhepunkte für mich waren die Rolle des 3. Knaben in der „Zauberflöte“ und der Soloauftritt mit dem NDR bei „Drei Nüsse für Aschenbrödel“.
Hast du denn bereits Pläne für deine berufliche Zukunft – und inwiefern wird die Musik dabei eine Rolle spielen?
Helena Simon: Ich mache dieses Jahr mein Abitur, und mein Plan ist es, später ein Medizinstudium zu absolvieren. Das ist erst mal eine ganz andere Richtung, aber mein Traum war es immer, nach dem Abitur für drei Monate Backgroundsängerin in einer Band zu sein, die gerade ihre Tournee in Australien macht. Der Traum ist leider geplatzt, da Australien die Grenzen erst jetzt wieder geöffnet hat. Zunächst einmal habe ich mich für ein Freiwilliges Wissenschaftliches Jahr an der MHH beworben, um bei einem Forschungsprojekt mitzuarbeiten, das Medizin und Musik verbindet.
… Ania Vegry, Sopranistin, Opern- und Konzertsängerin, Vocal Coach
Von 2007 bis 2019 Ensemblemitglied der Niedersächsischen Staatsoper Hannover, jetzt am Anhaltischen Theaters Dessau. Mehrere Auszeichnungen und CD-Veröffentlichungen. Arbeit mit bedeutenden Orchestern und Dirigenten. Lebt mit ihrem Ehemann und dem achtjährigen Sohn Anton in Hannover und ist hier inzwischen als Stimmbildnerin für den Mädchenchor tätig.
Wie war damals Ihr Vorsingen? Sie sind ja als eine der Jüngsten überhaupt in den Konzertchor gekommen.
Ania Vegry: Ich war neun Jahre alt. Da ich einem professionellen Musikerhaushalt entstamme, lag es nahe, dass ich mich als Tochter eines Geigers und einer Pianistin ebenfalls mit Musik beschäftige; und weil ich schon als kleines Kind sehr gerne sang, kam meine Mutter auf die Idee, mich zur Aufnahmeprüfung des MCH zu bringen. Ich weiß noch, dass ich der Jury den Abendsegen aus Humperdincks „Hänsel und Gretel“ vorgesungen habe, dass ich transponieren und sehr schräge und sehr lange Tonfolgen nachsingen musste. Das hat dann wohl auch ganz gut geklappt.
Das Gemeinschaftsgefühl ist wichtig. Muss es beim Anstreben einer professionellen Karriere aber auch so etwas wie einen gesunden Egoismus geben?
Ania Vegry: Natürlich ist ein gesunder persönlicher Ehrgeiz oder Egoismus vonnöten, wenn man eine professionelle Karriere als Musiker*in anstrebt; meines Erachtens gilt das aber nicht nur für die künstlerischen, sondern auch für alle anderen Berufe. Klar gab es auch im Chor ein natürliches Konkurrenzdenken, worunter ich zum Beispiel verstehe: „Mensch, die singt heute das Solo, das klingt so schön! Das möchte ich auch mal schaffen!“ oder Ähnliches. Dieser gegenseitige Ansporn wie auch die gemeinsame Freude über Gelungenes – das war und ist bis heute üblich: Sich gegenseitig zu gelungenen Soli und/oder kleinen Besetzungen zu gratulieren – hat auch dafür gesorgt, sowohl als Gruppe als auch als Einzelne noch entschlossener nach immer besseren Ergebnissen zu streben.
Hat sich die Mentalität der Frauen im Laufe der Zeit benennbar verändert?
Ania Vegry: Da hat sich, soweit ich das von meiner stimmbildnerischen Warte aus beurteilen kann, nichts geändert. Im Chor sind heute wie damals natürlich zahlreiche, auch sehr unterschiedliche Charaktertypen vorhanden, aber sämtliche Mädchen bringen nach wie vor neben einer großen Sing- und Musizierlust auch allerhand Leistungswillen mit.
… Josefine Göhmann, Sopranistin
Zahlreiche internationale Engagements, Mitwirkung in spartenübergreifenden Projekten. Singt im Kinofilm „Honecker und der Pastor“, der am 21. März im ZDF ausgestrahlt wird. Am 8.4. erscheint ihr Album „réBelles!“. Die Deutsch-Chilenin lebt in Berlin.
Wie gestaltete sich Ihr Einstieg in den Mädchenchor Hannover?
Josefine Göhmann: Mit elf Jahren sang ich „Komm lieber Mai“ von Mozart vor. Zu der Zeit spielte ich schon sechs Jahre und intensiv Klavier. Sang wohl beim Spielen vor mich hin, ohne es zu merken. Mozart war der Held meiner Kassetten im Kinderzimmer. In meiner Schulklasse war dann Hockey hoch im Kurs; das interessierte mich gar nicht. Und meine Mutter sagte: Geh doch mal hin zum Chor, vielleicht lernst du andere Mädchen kennen. Ich musste erst in die sogenannte Vorklasse. Das empfand ich als Beleidigung und wünschte mir zum Geburtstag, dass ich da nicht mehr hinmuss. Meine Mutter sprach mit der Gruppenleiterin, und ich durfte ohne Vorsingen in den Nachwuchschor. Als ich später eine Probe des Konzertchores hörte, sang ich von der Empore weit oben einfach mit. Ich war Teil dessen. Als hätte mich das Singen überflutet und mitgerissen.
Was vor allem haben Sie im Mädchenchor gelernt?
Josefine Göhmann: Musiker sein. Genauigkeit, Stilkenntnis, unbedingte und absolute Hingabe. Vorbereiten, proben. Auftreten. Alles hat seine Zeit. Präzision darf sich nicht gegen einen selbst wenden. Die Liebe zur Kunst und das Suchen dürfen kein Ende haben.
Und wann hat sich der Wunsch herauskristallisiert, professionelle Sängerin zu werden?
Josefine Göhmann: Seit ich „Jugend musiziert“ gemacht hatte mit zwölf oder 13, war mir klar, dass ich Sängerin werde und das mein Leben ist.
… Dr.-Ing. Neele Wieczorek
Studium des Wirtschaftsingenieurwesens mit Vertiefung Elektrotechnik. Promotion in Mikroelektronik. Tätig bei der Volkswagen AG, seit 2001 dort „Head of Operative Organizational Development“. Lebt in Hannover.
Haben Sie jemals erwogen, doch eher die Musik zu Ihrem Beruf zu machen?
Neele Wieczorek: Wenn man Solo-Parts im Mädchenchor übernimmt, bleibt es nicht aus, dass man sich mit dem Gedanken beschäftigt, Musik zu studieren. Nun komme ich selbst nicht aus einer Musikerfamilie, und meine Eltern und Geschwister haben mir vorgelebt, dass Musik ein wunderschönes Hobby ist. So habe ich es dann auch schnell empfunden. Meine Technikaffinität hat sich tatsächlich erst im Studium herauskristallisiert. Dann war der Einstieg bei einem großen Automobilkonzern rückblickend für mich eine super Möglichkeit, mich in verschiedene Richtungen weiterzuentwickeln. In welcher Industrie hat man aktuell schon so viel Gestaltungsmöglichkeiten wie bei der Definition der Mobilität von morgen?
Welche Erfahrungen aus Ihrer Chorzeit nützen Ihnen im heutigen beruflichen Umfeld?
Neele Wieczorek: Dadurch, dass ich dieses Gemeinschaftsgefühl schon so früh und intensiv erleben durfte, das Einswerden, um gemeinsam für etwas Größeres zu kämpfen, trage ich diese Messlatte durch mein ganzes Leben bei jeglicher Teamarbeit. Ich habe jederzeit den Anspruch, das große Ganze zu sehen und mit dem jeweiligen Team dieses Zusammengehörigkeitsgefühl zu erreichen. Sicherlich sind gemeinsames Durchhaltevermögen und Mut weitere Erfahrungen, die mich bis heute prägen.
An welche Anekdoten aus Mädchenchor-Zeiten erinnern Sie sich besonders gern?
Neele Wieczorek: Ich denke da an Peinlichkeiten, die während Konzerten oder Reisen passieren oder schlüpfrige Schwärmereien, die man sich in Wartezeiten auf Kirchenbänken erzählt. Ganz konkret lachen muss ich bei dem Gedanken an den kreischenden Reisebus, als wir zum damals größten Shoppingcenter der Welt in Edmonton/Kanada abbogen. Ich glaube, es gab dort allein 30 Schuhgeschäfte, und wir hatten nicht viel Zeit …
Sie haben unlängst Nachwuchs bekommen. Werden Sie da zu gegebener Zeit versuchen, musikalisch einzuwirken?
Neele Wieczorek: Ja, Mitte Januar wurde die kleine Marie geboren. Das Organ hat sie auf jeden Fall, ich hoffe, das Talent zum Singen auch. Da mich Musik und Singen gerade in meiner Jugend so geprägt haben, möchte ich dies natürlich im besten Fall auch weitergeben.