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„Verlustängste sind eng mit unserem Selbstwert verknüpft“

28. Mai 2021

Therapeutin und Beziehungsexpertin Stefanie Stahl, Autorin des Bestsellers „Das Kind in dir muss Heimat finden“, hat immer wieder mit dem Thema Verlust­angst zu tun: Diese Angst kann sich in verschiedenen Lebens­situationen zeigen – in Bezug auf den Partner, die Freunde oder die Kinder. In einer Beziehung wird dieses Gefühl oft als besonders intensiv empfunden. Die Furcht, von einem geliebten Menschen verlassen, nicht mehr anerkannt und gemocht zu werden, kann das gesamte Denken beherrschen und der Partnerschaft mehr schaden als nutzen. Stefanie Stahl beantwortet im Interview wichtige Fragen zum Thema und gibt Ratsuchenden Anregungen für eine glückliche Beziehung mit auf den Weg.
Text: Julia Meyer-Hermann Fotos: Susanne Wysocki

Verlustangst zerstört mitunter das, was man eigentlich unbedingt bewahren will: die Beziehung. Woher kommt dieses destruktive Gefühl?
Verlustangst wird zwar als leidvoll empfunden, ist evolutionär gesehen aber zunächst mal eine ganz wichtige Emotion. Der Mensch kann ohne Bindung nicht überleben. Also hat die Natur es so eingerichtet, dass eines unserer wichtigsten psychologischen Grundbedürfnisse das nach Zugehörigkeit ist. Die Natur hat uns unheimlich viele Gefühle mitgegeben, um unsere Bindungen zu beschützen. Es gibt zum Beispiel die erotische Anziehungskraft und die Verliebtheit, um überhaupt eine Bindung einzugehen. Die Verlustangst ist dafür da, eine Bindung aufrechtzuerhalten. Sie demonstriert uns, wie schrecklich es wäre, das Gegenüber zu verlieren.
Bis zu welchem Grad ist das Gefühl von Verlustangst ganz normal? Wann wird sie krankhaft?
Verlustangst ist dann normal, wenn ein Anlass dafür gegeben ist. Wenn ich feststelle, dass mein Partner fremdgeht, habe ich einen handfesten Grund zu der Annahme, ich könnte diese Beziehung verlieren. Wenn mein Partner sich distanziert oder offen darüber nachdenkt, Schluss zu machen, ist die Sorge ebenfalls berechtigt. Es ist auch normal, wenn man manchmal große Angst empfindet, dass einem geliebten Menschen etwas zustoßen könnte. Schwierig wird es, wenn man ständig in Hab-Acht-Stellung ist und eine Trennung erwartet. Entweder ist dann die Beziehung gestört und der Partner vermittelt tatsächlich nicht genug Sicherheit oder die verlustängstliche Person hat ein Problem mit sich und ihrem Selbstwertgefühl.
Wie hängen Verlustangst und Selbstwertgefühl zusammen?
Verlust- und Versagensangst sind immer eng mit unserem Selbstwert verknüpft. Oft werden diese Ängste von Glaubenssätzen gespeist, die eine gefühlte Minderwertigkeit ausdrücken. Sehr viele verlustängstliche Menschen tragen – in unterschiedlicher Formulierung – den Glaubenssatz „Ich bin nicht gut genug“ in sich. Die Verlustangst ist dann natürlich groß, weil ihr inneres Kind nicht glauben kann, dass es „gut genug ist“, um wirklich geliebt zu werden.
„Wer Verlustängste hat, hat als Kind keine sichere Bindung erfahren.“ Stimmt diese schnelle Schlussfolgerung?
Wenn ich als Kind nicht erlebt habe, dass Bindungen und Beziehungen etwas sind, worauf ich wirklich vertrauen kann, ist mein Lebensgefühl nicht durch Urvertrauen sondern durch Urmisstrauen geprägt. Dann bin ich in einer Partnerschaft schnell zu verunsichern, denn ich rechne ja nicht damit, dass eine Bindung etwas Verlässliches und Vertrauenswürdiges ist. Die unsichere Bindung in der Kindheit ist also auf jeden Fall ein Boden, auf dem Verlustängste sehr gut gedeihen. Aber auch Menschen mit einer sicheren Bindung können unter großen Verlust­ängsten leiden, wenn ihr Partner ihnen wenig Sicherheit vermittelt.

Wie äußert sich eine übergroße Verlustangst? Sind die ängstlichen Partner immer diejenigen, die „klammern“?
Aus großer Verlustangst können auch starke Autonomie­bestrebungen entstehen. Die Angst motiviert die Betroffenen dazu, sich möglichst unabhängig zu machen. Bevor man verlassen wird, verlässt man lieber selbst. Wie singt Robbie Williams so treffend? „Before I fall in love, I’m preparing to leave her.“ Ich lasse den Partner also gar nicht erst so wichtig werden, dass der überhaupt die Möglichkeit bekommen kann, mich zu kränken. Manch ein verlustängstlicher Mensch lässt sich auch gar nicht erst auf eine Beziehung ein. Hinter einer Bindungsangst verstecken sich oft tiefe Verlustängste.
Was unterscheidet Verlustangst von Eifersucht?
Eifersucht ist ein Sekundärgefühl, das sich aus der Verlustangst ergibt. Bei der Eifersucht geht es darum, dass jemand anderes mir vorgezogen wird. Es geht um Konkurrenzfragen und um eine massive Selbstwertbedrohung. Die Verlustangst selbst geht viel weiter. Viele Menschen haben große Angst davor, einen geliebten Menschen durch Krankheit und Tod zu verlieren. Das sind Gefühle absoluter Hilflosigkeit, die nichts mit Eifersucht zu tun haben.
Ab welchem Punkt sollte man an seiner Verlustangst arbeiten?
Wenn der Leidensdruck sehr hoch ist – entweder für einen selbst oder auch für das Umfeld –, dann sollte man sich mit seiner Verlust­angst beschäftigen. Im ersten Schritt sollte man überprüfen, was die Ursache für diese Angst ist. Man muss dafür eine Art Faktencheck machen: Sind die Gründe real? Bin ich vielleicht an einen Menschen gebunden, der mir keine Sicherheit gibt? Oder imaginiere ich mögliche Verluste, obwohl das der Realität nicht entspricht? Manchmal ist es nicht so ganz einfach, das selbst rational zu erkennen. Dann kann man auch nahestehende Menschen um ihre Sichtweise bitten und sich eine Fremdbeurteilung abholen.

Kann man eine Verlustangst „selbst therapieren“ oder sollte man sich lieber professionelle Hilfe suchen?
Wenn man die Ursache für die eigene Verlustangst erkannt hat, kann man einige Veränderungsschritte auch ohne Therapie einleiten. Eine Anleitung dazu bieten meine Bücher „Das Kind in dir muss Heimat finden“ und „Jeder ist beziehungsfähig“. Man kann sich mit den eigenen Glaubenssätzen und Kindheitsprägungen beschäftigen, aus denen die übergroße Verlustangst resultiert. Man kann überlegen, welche Schutzstrategien man anwendet, um der Verlustangst zu begegnen. Passt man sich vielleicht übermäßig an, um geliebt zu werden? Oder distanziert man sich, weil man eine emotionale Abhängigkeit fürchtet? Es hilft jedenfalls immer, wenn man Verantwortung übernimmt und sich klarmacht: Ich kann an meinem Selbstwert arbeiten.

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