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Das Ende des Schweigens

26. März 2021

Krieg und Fluchterfahrungen reißen bei den Betroffenen seelische Wunden. Schlimmer noch – diese Traumata können auch an nachfolgende Generationen weitergegeben werden und dort nachwirken. Nicht nur seelisch, sondern auch als schwere körperliche Beschwerden. Kriegsenkel und ihre Traumata, das Thema, über das in der Ausgabe November 2020 berichtete, wirft weiterhin viele Fragen auf.

Interview und Text: Beate Rossbach

Herr Baer, wie sind Sie mit diesem Thema konfrontiert worden?

Udo Baer: Wir sind schon vor Jahrzehnten darauf aufmerksam geworden, da wir in unserer Praxis viel mit traumatisierten Menschen zu tun hatten und bemerkten: Sie leiden an allen Folgen von traumatischen Erlebnissen, haben aber selbst kein eigenes Trauma erlebt. Dann haben wir nachgefragt: Was war denn mit den Eltern?

Die Probleme waren also schon länger bekannt, aber sind erst in jüngerer Zeit mehr ins Bewusstsein gerückt?

Udo Baer: Ja, die Menschen wurden immer interessierter, und das mag daran liegen, dass wir jetzt in der Generation der Enkel angekommen sind, sodass mehr Distanz zu den traumatischen Erfahrungen und dem daraus entstandenen großen Schweigen besteht. Man geht verstärkt an das Thema heran.

Gibt es für Sie auch persönliche Bezüge?

Udo Baer: Wenn man sich mit diesem Thema beschäftigt, geht es irgendwann auch um das Schicksal der eigenen Eltern. Mein Vater, Jahrgang 1921, war im Russlandfeldzug, es gab Kriegs- und Fluchterfahrungen. Das war sehr spannend und aufregend, davon zu hören und darüber zu sprechen.

Wie äußern sich nun Kriegstraumata bei Menschen der Nachkriegsgeneration, die das Geschehen gar nicht erlebt haben? Da fällt oft der Begriff „Stochern im Nebel“.

Udo Baer: Ich selbst, Jahrgang 1949, habe jahrelang von Krieg geträumt. Ich bin manchmal traurig geworden, ohne dass ich wusste warum. Es gibt Menschen, bei denen lösen sogenannte Trigger wie bestimmte Gerüche oder Geräusche etwas aus. Donner klingt so ähnlich wie Artilleriebeschuss. Manche haben Angst vor engen Räumen und dass sie verschüttet werden, haben so etwas aber nie erlebt. Andere fühlen sich heimatlos und nicht geborgen, sind ständig unterwegs. Wir wissen heute, dass sich alle Folgen von unmittelbar erlebten Traumata auch in der nächsten und übernächsten Generation zeigen können. Aber ohne dass die Betroffenen wissen, warum. Sofern das nicht auf eigenen verdrängten Erinnerungen beruht, sind die Ursachen nicht greifbar, sind diffus, liegen wie im Nebel verborgen. Und dann muss man auf die Suche gehen.

Kann so etwas nicht an Erzählungen liegen, die man vielleicht als Kind mitbekommen hat?

Udo Baer: Natürlich, auch. Erzählungen sind ja nicht nur Sachinformationen, sondern auch Emotionen. Wir schaffen auch Bilder in uns. Das funktioniert wie beim Bücher lesen. Die Fantasie entwickelt einen Film dazu. Aber oft ist es so, dass die meisten Menschen eher das große Schweigen mitbekommen haben, weil die Traumatisierten nicht erzählen konnten oder wollten.

Foto: Willy Bartmer/Historisches Museum Hannover

Wie funktioniert denn nun das „Vererben“ von Traumata? Die Literatur zum Thema sagt explizit, dass Unverarbeitetes aus dem Leben der Eltern in einem transgenerationalen Transfer auf die Kinder übertragen werden kann.

Udo Baer: Ja, und zwar auf verschiedenen Wegen. Es gibt Forschungen, die besagen, dass traumatische Erlebnisse über Generationen weitergegeben werden können, indem sie in das genetische Material eingehen können. Dieses „genetische Gedächtnis“ wurde bisher bei kurzlebigen Tieren nachgewiesen, bei Mäusen, aber nicht bei Menschen, denn die Versuche müssten ja sehr lange laufen. Allerdings weiß man heute auch, dass die Gene eines Menschen nicht fest sind. Sie können sich verändern.

Sie meinen Genmutationen, ohne die es keine Evolution gäbe? Oder vielleicht die ganz aktuellen Erkenntnisse von Neurophysiologen und Humangenetikern, die über das Zusammenspiel von Genen und Erfahrungen forschen und die sagen, dass nicht nur unsere DNA, sondern auch unsere Erfahrungen an Kinder vererbt werden, dass Gene im Laufe des Lebens moduliert werden, wobei die Erfahrung und die Umwelt eines Menschen ins Spiel kommen?

Udo Baer: Genau. Nehmen Sie die Angst. Jeder kann Angst haben, aber die Angst ist unterschiedlich. Es gibt Fälle, in denen ausgeschlossen werden kann, dass diese Ängste genetisch weitergegeben worden sind. Es muss also noch andere Faktoren geben.

In der Literatur findet sich oft der Satz „Der Körper hat sein eigenes Gedächtnis“.

Udo Baer: Man unterscheidet hier zwischen dem, was man „Leib-Gedächtnis“ nennt, also dem „erlebenden Körper“ – der spürende Mensch mit seinem Befinden, den Gefühlen und Stimmungen. Dieses Gedächtnis ist ein anderes als das kognitive, das sich auf geistige Wahrnehmung, Denkprozesse, Signale aus der Umwelt bezieht. Das Leib-Gedächtnis speist sich aus allen gespürten Erfahrungen und aus allen, die ich mit meinen Eltern gemacht habe.

Was passiert da?
Udo Baer: Unsere Forschungsthese ist: Etwas zu verschweigen, verhindert das Aufarbeiten. Menschen, die Schreckliches verschweigen, vor allem emotional, geben Trauma und Traumafolgen an die nächste Generation weiter. Das ist auch das Ergebnis der Forschung mit Holocaust-Kindern in Israel.

Was gut gemeint war, die Kinder zu schonen, bewirkt also das Gegenteil?
Udo Baer: Ja, denn wir Menschen haben eine grundlegende Fähigkeit – das Mitgefühl. Wir spüren den Schmerz der anderen. Wir spüren ja auch die Freude. Sie steckt an. Selbst über Skype spüre ich, wenn meine Enkel sich freuen. Ich werde heiter, ich lache mit. Oder die Scham, wenn sich der Nachrichtensprecher verhaspelt. Diese Resonanz, dieses Hin- und Herschwingen ist eine wundervolle Fähigkeit der Menschen. Wer den Schmerz des anderen spürt, kann ihm keine Schmerzen zufügen.

Und wenn dann über den Schmerz nicht gesprochen wird …
Udo Baer: … wird die Aufmerksamkeit des Kindes angezogen. Wie bei einem schwarzen Loch im Weltall, das die Energie ansaugt. Und dieser verschwiegene Kummer, die verschwiegene Angst, die ziehen die Energie von Kindern an, denn Kinder lieben ihre Eltern bedingungslos und fühlen sich mitverantwortlich. Mama und Papa sollen keine Angst haben. Und dann geht die Energie dahin, reicht vielleicht nicht mehr für die Schule … Kinder spüren das Gefühl, auch wenn es dafür keine Sprache gibt. Und dann taucht das ganze Spektrum aus Angst, Schuld und Scham in den Kindern irgendwann auf, und sie wissen nicht warum.

Können Sie einige konkrete Beispiele nennen, wie sich das äußert?
Udo Baer: Ich bin immer wieder überrascht, was die Menschen erzählen. Man begegnet einem gesteigerten Leistungswillen, denn die Eltern der Kriegsgeneration haben ja auch viel geleistet. „Ich bin, weil ich etwas leiste.“ Oder man möchte kein Risiko eingehen. „Steck deinen Kopf nicht so weit raus.“ Das ist ein Schützengrabenbegriff. Oder man will den Eltern gefallen, weil man nicht schuld sein will, wenn es ihnen schlecht geht. Also bin ich ein braves Kind und mache alles, was ihnen gefallen könnte. Die emotionale Leere der Eltern schafft bei den Kindern oder Enkeln ein inneres Vakuum.

Das Gegenmittel ist also, darüber zu reden?
Udo Baer: Genau. Und wer mit seinen Kindern nicht reden kann, weil er es vielleicht von seinen Eltern so mitbekommen hat, der sollte sagen, dass er nicht über seine Gefühle reden kann, statt diesen Ballast weiter mitzuschleppen. Heute bricht der Deckel langsam auf, die Menschen sind eher bereit, sich mitzuteilen. Die Parole der Vorgängergenerationen „Zähne zusammenbeißen und durch“ wird immer weniger – und das ist wichtig.

Ab wann ist psychologische Hilfe nötig?
Udo Baer: Das muss jeder für sich entscheiden, allein oder mit dem Partner, der Partnerin. Da gibt es keine objektiven Kriterien, keine Checklisten. Das einzige Kriterium ist ein subjektives – das Leiden. Wenn ich unter etwas leide und es nicht hilft, Bücher zu lesen oder mit Freunden darüber zu sprechen, oder wenn ich körperliche Symptome, Schmerzen oder einen Burn-out entwickle, dann brauche ich Hilfe. Im Gehirn sind die Regionen, die körperlichen und seelischen Schmerz entwickeln, dieselben. Daraus können sich auf Dauer Depressionen oder körperliche Krankheiten entwickeln. Das ist individuell, aber das Kriterium ist das Leiden.

Kann die Unfähigkeit, sich Hilfe zu holen, nicht auch ein Kriegserbe sein?
Udo Baer: Ja, natürlich. Abgesehen von der Pädagogik, der Erziehung zur Härte in damaliger Zeit, durfte man als Kriegsteilnehmer nicht jammern. Das war Wehrkraftzersetzung. Und nach dem Krieg gab es keine Hilfe, keine Seelsorger, Radiosendungen oder Selbsthilfegruppen.
Welche Therapieansätze gibt es?
Udo Baer: Da gibt es mehrere Möglichkeiten. Wichtig ist es, sich Therapeuten zu suchen, die der Frage gegenüber offen sind und nicht sagen: „Das kann doch nicht sein, das ist doch schon so lange her. “Damit wird man allein gelassen, und das ist das Schlimmste und das Gleiche wie der Spruch unserer Eltern: „Stell dich nicht so an. Du hast doch noch gar nichts Schreckliches erlebt.“

Können Sie einige grundsätzliche Ratschläge geben?
Udo Baer: Ja, drei Schritte sind wichtig: erstens, das Verständnis, auch sich selbst gegenüber. Man muss sich „die blöde Angst“ selbst eingestehen. Zweitens sollte man einen Schritt zur Seite treten, metaphorisch und ganz wörtlich. Viele Menschen sind mit den Eltern verbunden, ja, förmlich verklebt, und denken, sie dürfen Mutter oder Vater nicht verraten oder im Stich lassen – die alten Eltern, die so viel durchgemacht und so viel für uns getan haben. Bei den meisten Menschen ist es so, dass sie durch die andere Perspektive dann freier atmen können. Es macht den Blick frei, ist Selbstschutz durch Loslassen. Und der dritte wichtige Punkt ist die Suche nach der „Meinhaftigkeit“, ein Begriff aus der Philosophie.
Was ist das? Wenn ich Hunger habe, weiß ich, es ist mein Hunger. Aber was ist mit der Angst? Ist es meine Angst oder die der anderen? Ist es meine Sehnsucht, nach Ostpreußen zu fahren, oder die der Eltern? Gefühle, Impulse, Leistungsdruck – so etwas mischt sich. Natürlich ist diese Meinhaftigkeit nie völlig da. Wir werden immer von anderen beeinflusst. Aber wenn es um die Weitergabe von Traumata geht, dann gilt es, unser eigenes Gepäck im Rucksack und das unserer Eltern und Großeltern auseinander zu sortieren. Ist das meins? Will ich das? Da gibt es keine leichten Antworten, es ist eine Suchbewegung. Aber dieser Prozess ist wichtig und notwendig. Ebenso wie miteinander reden und das Auflösen verhärteter Emotionen. Zähne zusammenbeißen hilft nur dem Zahnarzt.

Das Schweigen brechen …

… das bedeutet, mit den Eltern und Großeltern reden, solange es noch geht. Mit Partnern und Freunden sprechen, sich öffnen und den Problemen stellen – so der Rat von Traumatherapeuten. Wer dazu fachkundige Hilfe und eine geeignete Gruppe sucht, wird auch in Hannover fündig. Die ein- bis mehrtägigen Seminare des Leibniz Kollegs „Kriegsenkel – die Kinder der Kriegskinder“ werden von Andreas Süskow geleitet. Für einen Teilnehmerkreis von maximal acht Personen führt er beim eintägigen Seminar auf der Basis von Texten, Interviews, Fotos und Filmen in das Thema ein. Dazu erhalten die Teilnehmer Gelegenheit, ihre eigenen Erlebnisse und Sorgen zur Sprache zu bringen. In mehrtägigen weiterführenden Vertiefungsseminaren bietet sich darüber hinaus die Möglichkeit, intensiver in das Thema der transgenerationalen Weitergabe von Traumatisierungen einzusteigen, mit noch mehr Zeit für den Austausch untereinander, vertiefende Gespräche für eigene bzw. familiäre Betroffenheit und die vom Dozenten empfohlenen und erprobten praktischen Anwendungen von Arbeitsmethoden und Ritualen.
https://leibnizkolleghannover.de/

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