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In guten Händen – wie blinde Frauen Tumore sichtbar machen

21. September 2021

Im Umkreis von 50 Kilometern ist Frauenarzt Dr. Nast der einzige, der sie anbietet: die medizinisch-taktile Untersuchung. Bisher sind 50 sehbehinderte Frauen weltweit von Discovering Hands geschult, um diese umfangreiche Brutkrebsfrüherkennung per Abtasten durchzuführen. Die Termine sind rar – unsere Autorin Luisa Verfürth konnte dennoch einen ergattern, um herauszufinden, was sich hinter dem Konzept verbirgt.
Text: Luisa Verfürth  Fotos: Lorena Kirste
Jede achte Frau in Deutschland bekommt Brustkrebs“, sagt der Hannoveraner Frauenarzt Dr. Jörg Christian Nast. Deshalb hat er sich vor einem Jahr dafür entschieden, das Angebot von Discovering Hands in seine Praxis mit aufzunehmen.
Gründer der Initiative ist der Duisburger Facharzt für Frauenheilkunde und Geburtsmedizin Dr. Frank Hoffmann. Die Idee dahinter liegt auf der Hand und ist genial: Sehbehinderte Frauen setzen ihren besonderen Tastsinn dafür ein, um in einer umfangreichen Sitzung, meist von einer Stunde Dauer, die Brust der Patientin im Rahmen der Brustkrebs­früherkennung abzutasten.
„Ich bin absolut davon überzeugt!“, so Nast. Und deshalb unterstützt Ineke Hovenkamp seit einem Jahr sein Praxis- Team im Ludwig-Sievers-Ring 4. Hovenkamp ist fast von Geburt an blind. „Am Anfang konnte ich noch ein wenig sehen, aber mit der Zeit habe ich mein Augenlicht ganz verloren.“ Hovenkamp ist für Discovering Hands extra mit ihrem Mann von Holland nach Deutschland gezogen. „Ich hatte von einer Freundin davon gehört, die sich auch für Discovering Hands hatte ausbilden lassen.“

Umfassende Untersuchung statt schnelle Abhandlung

Die theoretische Ausbildung zur Medizinisch-Taktilen Untersucherin (MTU) dauert sechs Monate. Es folgen drei Monate Praxis. MTUs ertasten dabei circa 30 Prozent mehr Gewebe­veränderungen als Ärzte. Was zu einem großen Teil auch an der Zeit liegt. In der Routine-Vorsorgeuntersuchung beim Frauenarzt wird das Abtasten der Brust ab 30 Jahren unbedingt empfohlen. Ein Arzt hat dafür im Durchschnitt eine halbe Minute Zeit. Hovenkamp nimmt sich eine halbe bis zu einer Stunde.
Als erstes füllt man zusammen mit ihr einen Anamnesebogen aus, in dem Fragen zur Menstruation, zu Gewohnheiten, zu Schwangerschaften, Stillen und anderen Merkmalen gestellt werden, als vorbereitende Information für die MTU. Es folgt die Untersuchung an sich, bei der sogenannte Orientierungsstreifen, fünf an der Zahl, auf und neben der Brust aufgebracht werden. Auf diesen Orientierungsstreifen befinden sich in Zentimeterabschnitten kleine Punkte, so dass Hovenkamp ganz genau anzeigen kann, wo ein Befund oder ein Knoten im Gewebe gefunden wurde.
„Ich taste dabei immer von außen nach innen und auch in drei verschiedenen Schichten und Tiefen in die Haut hinein. Auch die Lymphknoten unter den Achseln werden mit abgetastet.“ Es gibt eigentlich keine Brust, die Hovenkamp nicht abtasten kann, außer das Gewebe ist zu fest, so dass die Patientin beim Abtasten Schmerzen hat oder das Gewebe wurde entfernt und durch Silikon ersetzt, zum Beispiel bei einem früheren Tumor. Dann ist das Ertasten nahezu unmöglich, ansonsten gibt es keine Einschränkungen.
Neben ihrem Laptop, den Hovenkamp mit einer speziellen Tastatur bedient, baumelt zur Demonstration eine kleine Holzkette mit unterschiedlich großen und kleinen Perlen. Die großen Perlen, sagt Hovenkamp, könnte man zu Hause sogar selbst ertasten, die kleineren eher die Ärzte und – die ganz kleinen findet sie. „Im Durchschnitt dauert die Untersuchung eine halbe Stunde. Ich biete meinen Patientinnen aber auch an, dass ich sie dafür schule, wie sie selbst zu Hause ihr Gewebe abtasten können. Das dauert eine weitere halbe Stunde. Aber es ist sehr wichtig.“

Alle Vorsorgemöglichkeiten wahrnehmen

Jeden Monat sollte eine Frau ihre Brust zuhause selbst einmal auf Knoten abtasten. Diese Vorsorge vernachlässigen viel zu viele, so Dr. Nast. „Wenn wir einmal ehrlich sind, sind wir Ärzte doch Tumorsucher. Wir rennen den Tumoren nur so hinterher. Dabei könnte man über bildgebende Verfahren Tumore vier Jahre im voraus erkennen. Viele Frauen allerdings scheuen sich vor dem Frauenarzt oder auch vor der Mammographie. Zum einen, weil die Brust dabei leicht zusammengedrückt wird, zum anderen aufgrund der Strahlung.“
Eine Brustkrebsfrüherkennung mit Discovering Hands sei deshalb eine gute zusätzliche Möglichkeit. Nast weist jedoch darauf hin, dass die Tast-Methode für über 50-Jährige keine Mammographie ersetzt. Vielmehr sei sie ein ein weiterer Baustein, um auf Nummer sicher zu gehen und sich abchecken zu lassen.
Den Zusatzservice bietet Nast seinen Patientinnen aus Überzeugung – nicht aus ökonomischen Gründen: „Ich verdiene damit nichts, sondern bezahle Discovering Hands 125 Euro am Tag sowie für Frau Hovenkamp und ihren Mann, der sie immer ganz fürsorglich begleitet und mit ihr mitreist, auch das Hotel.“
Da Ineke Hovenkamp im Moment immer nur eineinhalb Tage in der Praxis von Dr. Nast ist, muss man sich mit den Terminen sputen. Elf Patientinnen schafft sie täglich zu untersuchen. Danach ist die Luft raus. Das millimetergenaue Ertasten strengt an, weil sie sich sehr konzentrieren muss.
Für Hovenkamp ist die Initiative mehr als nur eine beliebige Tätigkeit: „Ich habe so eine Sinnhaftigkeit gefunden, meine Tastfähigkeit zum Wohl und zur Vorsorge anderer Frauen einzusetzen. Das macht mir unheimlich Spass und mich froh, wenn ich ihnen helfen kann. Oft sind es ja auch nur gutartige Knötchen. Bei allen anderen ist es aber auch wichtig, dass wir sie früh genug finden und Dr. Nast dann eine weiterführende Untersuchung veranlassen kann.“
Neben Hovenkamp gibt es nur 50 weitere Frauen auf der Welt, die für Discovering Hands im Einsatz sind. Im Umkreis von 50 km ist Dr. Nast hier in Hannover der einzige Arzt, der diese Art der Vorsorge anbietet.
„Man hat nur diese eine Gesundheit. Und ab 50 kommen die Einschläge immer näher. 80 Prozent der bösartigen Tumore treten dann in Erscheinung. Der Mensch ist leider so konzipiert, dass er nur durch Schmerzen lernt, dabei wäre es viel schöner, ihm vorausschauend helfen zu können.“
Ineke Hovenkamps Hände können dazu beitragen, sie können vielleicht nicht heilen – aber sie können retten. Einmal am Wochenende arbeitet sie immer noch in einem Hotel nahe ihrer Heimat als Masseurin. Schon dort haben ihre Patientinnen früher immer gesagt: „Ineke, es ist unglaublich, du kannst genau spüren wo ich Schmerzen oder Knoten im Muskelgewebe habe“.
Als MTU versucht Hovenkamp Knoten zu erspüren, die niemals zu schlimmen Schmerzen werden sollen. 46 Euro, die meist von der Krankenkasse übernommen werden, und eine Stunde Zeit können Gewissheit verschaffen. Und vielleicht Ihr Leben retten. Lernen Sie Ineke Hovenkamp kennen. Und grüßen Sie ganz lieb. Ich habe mich lange nicht in so guten Händen gefühlt.

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