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Gastarbeiterkinder – heute Freunde und Nachbarn

28. September 2021

Ihre Großeltern und Eltern kamen her, um zu arbeiten und sind geblieben. Wie leben die Nachkommen der zweiten und dritten Generation? Vier Kurzporträts türkischstämmiger Mitbürger*innen aus Hannover.
Interviews: Beate Roßbach & Marleen Gaida
Foto: Nadja Mahjoub

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Ayda Kirci

Foto: Nadja Mahjoub

„Ich bin Musikerin und ausgebildete Sängerin, unterrichte, als Musikpädagogin mit Schwerpunkt „Integration“, schreibe Lieder und habe eine Band, „Shanaya“. Die Musikrichtung, die ich entwickelt habe, heißt „Migranten-Pop“ – „Mig-Pop“. Früher habe ich weltweit bei großen Events gesungen. Aber seit einigen Jahren experimentiere ich, und es ist mein Traum und meine Vision, eine Brücke zwischen den Kulturen zu schlagen, so dass es gelingt, Menschen unterschiedlicher Art und Herkunft, die Mehrheitsgesellschaft, zu einem Konzert zusammenzubringen.
Meine Eltern haben sich hier in Deutschland kennengelernt und geheiratet. Beide sind im Rahmen des Deutsch-türkischen Anwerbeabkommens hierhergekommen, allerdings getrennt. Mein verstorbener Vater Arif Aydoğdu war Dozent für Gartenbau und Botanik an der Universität Izmir. Daher kam er nach Hannover, um ein Praktikum in den Herrenhäuser Gärten zu machen. Das hat ihn sehr interessiert, und es gibt noch tolle Fotos von ihm in den Gewächshäusern. Danach ist er hiergeblieben und als klassischer Gastarbeiter zu VW-Nutzfahrzeuge gegangen, denn die Arbeit wurde ausgezeichnet bezahlt. Meine Mutter, Aysel Demir, stammt aus Istanbul, aus zunächst wohlhabendem Haus, aber dann brauchten ihre Eltern Unterstützung. So kam sie als Gastarbeiterin nach Hildesheim zu Blaupunkt. Später haben sich meine Eltern scheiden lassen, und meine Mutter hat dann als Hausdame in einem renommierten hannoverschen Hotel gearbeitet.
Mein Vater ist oft in die Heimat gereist und hat dann ein eigenes Reisebüro eröffnet. Meine Schwester und ich durften immer umsonst in die Türkei fliegen, wenn noch Plätze frei waren. Daher ist mein Türkisch so gut. Wir hatten noch Verwandtschaft in Istanbul. Der Besuch dort war immer das Highlight des Jahres.

Parallelgesellschaft

Ich habe eine Schwester. Sie ist Lehrerin in Bremen und sehr engagiert, auch im Bereich Integration. Mein Vater hat sich ebenfalls sehr für den deutsch-türkischen Dialog engagiert und für Jugendliche in Hannover. Er hat Sportvereine und andere Vereine gegründet und Menschen zusammengebracht. Und er hat mir mein künstlerisches Talent vererbt. Ich möchte mit meinen Konzerten und meiner Musik an das sechzigjährige Jubiläum des Anwerbeabkommen erinnern. Die nächste CD meiner Band Shanaya wird „Gastarbeiterkind“ heißen.
Und schreiben Sie bitte: Wenn jemand behauptet, es gäbe hier in Deutschland keine Parallelgesellschaft – das ist eine Lüge! Eine Beschönigung aus Bequemlichkeit. Ich habe den Weg der gutverdienenden Sängerin verlassen, um dagegen anzukämpfen. Gegen den Riss in der Mehrheitsgesellschaft, gegen die Armut der Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte, die einige für ihre Zwecke instrumentalisieren möchten. Viele von uns sind angekommen, ich gehöre auch dazu. Aber ich war auch in einer Parallelgesellschaft und musste mich da herauskämpfen. Durch Musik und Kultur ist mir das gelungen. Meine Eltern haben mir dabei geholfen, haben mich machen lassen und mir immer vertraut. Aber ich hatte viele Freundinnen, denen es überhaupt nicht gut ging. Die durften nichts, waren wie eingesperrt. Und diese Probleme haben wir immer noch, auch nach sechs Jahrzehnten. Aber es gibt auch in allen Bereichen wunderbare deutsch-türkische Freundschaften und einen sehr bereichernden Austausch. Diese Brücken müssen gebaut und erhalten werden. Wir leben hier in Deutschland, und wir leben gut. Daher meine ich, wir müssen hier Liebe und Augenmerk investieren, denn umso schöner wird unsere Zukunft und die unserer Kinder.“

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Yasar Ince

Foto: privat

„Sehen Sie den Feigen- und den Walnussbaum dort? Die hat meine Mutter vor zwanzig Jahren gepflanzt. Dieser Innenhof unserer türkischen Patisserie und Café Efendi Bey gehörte früher zu einer Fabrik. Heute wollen wir hier ein kleines Stück Orient gestalten. Wir sind eine große kurdisch-türkische Familie, also relativ groß – für deutsche Verhältnisse. Mein älterer Bruder Hikmet ist der Geschäftsführer der Familienfirma Ince GmbH, zu der auch ein Reisebüro gehört. Um das Café kümmern sich mein jüngerer Bruder Ibrahim und ich. Insgesamt sind wir acht Geschwister, sieben Brüder und als jüngste unsere Schwester. Ich bin Nummer sechs, 1975 geboren, und kam nach Deutschland, als ich zehn Jahre alt war. Heute habe ich selbst drei Kinder, und meine Tochter, die älteste, ist jetzt genau in dem Alter wie ich damals war, als ich herkam. Das ist für mich spannend zu vergleichen. Meine Frau Hadice ist auch ursprünglich Kurdin aus der Türkei und stammt aus Köln. Meine Eltern kannten ihre Eltern und haben mir vorgeschlagen, sie kennenzulernen. Ein guter Vorschlag…
Unsere Familie stammt aus dem Südosten der Türkei, aus Urfa, bei Gaziantep. Urfa, wie die Restaurants hier in Hannover. Mein Vater war an ihnen beteiligt, aber seit rund zehn Jahren gehen wir eigene Wege. Ich habe an der Lutherschule Abitur gemacht, Wirtschaftswissenschaften studiert und bin hier Prokurist. Die Idee und die Entwicklung der Marke Efendi Bey stammen von mir. Das ist mein Steckenpferd, mit Bezug zur Familiengeschichte. Durch Urfa hatten wir schon den Kontakt zur Gastronomie. Unsere Familie besitzt in der Türkei unter anderem Pistazienfelder. Das Stichwort dazu ist „Baklava“, das bekannte Gebäck, das aus unserer Heimat stammt und das wir hierherholen wollten, denn wir haben hochwertiges Baklava sehr vermisst. In 2011 haben wir begonnen, es herzustellen und daraus eine komplette Konditorei gemacht.

Ein neues Kapitel

Meine Großeltern hatten in der Türkei Landwirtschaft, aber mein Vater Salih war schon immer eher Geschäftsmann als Bauer, schon in ganz jungen Jahren. Er verkaufte unsere Trauben auf dem Markt, trieb Handel und war an allem, was sich bot, sehr interessiert. Er kam 1973 als einer der letzten über das Anwerbeabkommen hierher, weniger aus wirtschaftlichen Gründen, sondern aus Neugier auf etwas Neues. Er hatte das enge Dorfleben wohl satt. Bis 1985 war er allein, aber er hat uns erzählt, dass er mehrmals im Jahr in die Türkei flog. Einsam war er wohl nicht, denn er hatte sich schnell ein Netzwerk aufgebaut und ist auch eher ein Macher-Typ. Er war erst bei Conti, dann bei VW am Fließband und gründete bald eine Reiseagentur, um seinen Kollegen in der Fabrik Tickets in die Heimat zu verkaufen. 1989 eröffnet er am Steintor sein erstes Reisebüro.
Meine Eltern haben sich in ihrem Dorf ineinander verliebt und sehr jung geheiratet, mit 14 oder 15. Das war damals so üblich. Ich kann mich noch gut an das einfache Leben im Dorf, wo ich geboren wurde, erinnern, und an die Verwandten. Das sind schöne und wichtige Erinnerungen. Es gab kein fließendes Wasser und keinen Strom. Später waren wir immer in den Sommerferien da.
Ich bewundere meinen Vater, denn er hat nur die Grundschule besucht und sich trotzdem etwas aufgebaut. Weil ihm selbst Bildung verwehrt wurde, da die höhere Schule in der nächsten Stadt zu weit weg war, waren ihm Schule, Ausbildung und bestenfalls Studium für uns sehr wichtig. Auch meine Schwester sollte studieren. So haben wir mehrere Akademiker in der Familie, und auch die nächste Generation studiert. Generell aber war mein Vater sehr liberal und hat uns nicht unterdrückt, sondern jeden von uns gewähren lassen. Das gilt auch für die Religion, innerhalb und außerhalb unserer muslimischen Familie.
In der Schule habe ich gleich Deutsch gesprochen und dann Hobbys entdeckt, die eher amerikanisch sind. Ich wollte nach Kalifornien und BMX-Profi werden. Dann habe ich die Hip-Hop-Kultur der Ostküste entdeckt. Ich male und zeichne Graffitis, bewege mich also in Kreisen, wo sich der normale Deutsche nicht aufhält. Ich war ein ganz normaler Teenager in Deutschland. Aber ich bin auch in meiner Herkunftskultur verankert und schätze dazu noch viele andere. Mein Vater hat übrigens immer darauf bestanden, dass wir hier ankommen. Er hat gesagt: Ihr seid jetzt hier, ihr seid Deutsche, das ist jetzt euer Leben.“ Bei der Fußball-WM hat er darauf bestanden, dass wir nur Deutschland anfeuern.“

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Seyhan Öztürk

Foto: privat

„Geboren wurde ich in Salzgitter-Bad. Dort habe ich auch bis zum Abitur die Schule besucht und 1993 in Göttingen begonnen, Jura zu studieren. Meine beiden Töchter sind 21 und 11 Jahre alt. Nach dem zweiten Staatsexamen habe ich in der Wirtschaft gearbeitet und bin seit 2008 selbständige Rechtsanwältin in Hannover. Meine Kanzlei und meinen Mandantenstamm habe ich mir selbst aufgebaut. Das war harte Arbeit, besonders als mein zweites Kind zur Welt kam. Aber sie war ein Wunschkind, und gemeinsam mit meinem Mann Kadir habe ich alles so organisiert, dass es funktionierte. Er ist Diplom-Betriebswirt und in leitender Position bei einem Unternehmen tätig. Ich bin Türkin, in Deutschland geboren, und er ist Türke, in der Türkei geboren und aufgewachsen, hat dort studiert und hier noch ein weiteres Studium absolviert.
Neben der Arbeit in meiner Kanzlei bin ich ehrenamtlich tätig, als Vorsitzende des Türkischen Elternvereins der Landeshauptstadt Hannover e.V., Vorsitzende des Landesverbandes Föderation Türkischer Elternvereine in Niedersachsen, stellvertretende Vorsitzende auf Bundesebene und seit 2020 Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft der Familienverbände in Niedersachsen. Wir wenden uns jedoch nicht ausschließlich an Türken, sondern sind komplett unabhängig, säkular, demokratisch und offen für alle, die Hilfe suchen. Dieses Engagement hat sich ergeben. Seitdem ich denken kann, habe ich mich ehrenamtlich engagiert und schon als Schülerin Menschen geholfen. Ich war Klassensprecherin oder habe gedolmetscht, Nachbarn von meinen Eltern zum Arzt begleitet und für sie Telefonate geführt. Das war auch im Studium so. Mein Mann und ich hatten in Göttingen viele Studenten-Freunde aus dem Ausland, aus China, aus dem Iran, aus Afghanistan, die vielleicht nicht so gut Deutsch konnten wie ich, und so habe ich vermittelt, kleine Frauengruppen organisiert und mich später in der Kita und Schule meiner Kinder eingebracht. Besonders im Bereich Bildung brauchen Familien Unterstützung, und daher haben wir 2012 den Elternverein und auch den Landesverband gegründet. Es ist schon so, dass ich relativ viel mache, aber das ist auch ein super Ausgleich zu meiner Kanzleitätigkeit und ein Teil von mir. Ich möchte den Familien Anlaufstellen bieten und den Menschen erklären und zeigen, dass sie es in diesem Land schaffen können, dass sie sogar einen akademischen Abschluss schaffen können, selbst wenn ihnen ihre Eltern nicht immer helfen können.
Ich habe es auch geschafft, und ich bin auch ein Gastarbeiterkind – aber richtig!

Ehrgeiz siegt

Schon mein Großvater mütterlicherseits ist in den sechziger Jahren allein, ohne seine Familie, in die Stahlwerke nach Salzgitter gekommen. Mein Vater, der aus Zentralanatolien stammt, ist 1969 zuerst zu Siemens nach Berlin gegangen und kam dann auch nach Salzgitter. Er hatte in der Türkei eine handwerkliche Fachausbildung absolviert, dort auch als Hilfslehrer gearbeitet und wollte aus wirtschaftlichen Gründen hierher. Meine Eltern haben sich in der Türkei kennengelernt. Es war eine arrangierte Ehe, und nach der Heirat zog meine Mutter 1971 auch nach Salzgitter. Vorher hatte mein Vater in den damals üblichen Männerbaracken gelebt, wollte aber Frau und Familie bei sich haben. Meine Mutter hatte in der Türkei nur eine sehr geringe Schulbildung genossen und versorgte den Haushalt und uns vier Kinder. Sie hat sich dann, ebenso wie mein Vater, Deutsch selbst angeeignet. Deutschkurse für Ausländer wie heute gab es damals noch nicht. Mein Vater war Bohrwerksdreher in den Stahlwerken, hat in Schichten hart gearbeitet, und ich weiß noch, seine Hände waren immer blutig und zerschnitten. Bis Mitte der achtziger Jahre hieß es immer: „Wir kehren zurück.“ Es wurde nichts Großartiges angeschafft, denn „wir kehren ja zurück und sparen auf die Heimat“. Als wir alle in der Schule waren, war klar – wir kehren nicht zurück.
Meine Lehrer wollten mir keine Gymnasialempfehlung geben, mit dem Argument, ich sei zwar schlau und hätte gute Noten, aber würde später ja doch heiraten. Das hat mich total geärgert. Über die Realschule bin ich dann doch aufs Gymnasium gekommen – ich habe es durchgezogen und geschafft! Bei uns in der Familie war Bildung immer sehr wichtig, sowohl für die Jungen als auch für die Mädchen. Das haben unsere Eltern sehr gefördert. Sie wollten immer, dass wir studieren und etwas aus unserem Leben machen. Meine Mutter sagte immer: „Ein Beruf ist wie ein goldener Armreif an Deinem Arm“. Und als ich 1993 meinen Studienplatz hatte, sagten deutsche Kollegen zu meinem Vater: „Deine Tochter wird ja nun doch nicht zwangsverheiratet.“ Auch meine Geschwister haben ihren Weg gemacht.
Wie sehen unsere Familie und der Freundeskreis heute aus? Ganz gemischt. Ich fühle mich wie beides, wie türkisch und deutsch. Bei meinen Töchtern überwiegt sicherlich schon das Deutsche. Der Mann meiner Schwester ist ein Ur-Deutscher aus Magdeburg, den wir alle lieben. Wir haben Freunde aus der Türkei und aus vielen anderen Ländern. Das leben wir auch unseren Kindern vor. Es zählt der Mensch, nicht die Herkunft und auch nicht die Religion. Es macht Freude, Gemeinsamkeiten zu entdecken und Neues zu erfahren.“

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Yildiz Arslan

Foto: Jessica Wahl

„Ich bin Steuerberaterin, habe mich im Jahr 2013 in Berlin selbstständig gemacht und bin Ende 2014 wieder zurück nach Hannover umgezogen. Meine Steuerberatungskanzlei ist international ausgerichtet. Schwerpunktländer sind, neben der Türkei, die Schweiz und Österreich. Durch meinen Hintergrund ergeben sich auch immer wieder interkulturelle Beratungen mit Bezug zur Türkei. Es handelt sich hierbei im Wesentlichen um Karriere-Coachings, insbesondere für aus der Türkei stammende Führungskräfte, die in Deutschland arbeiten sowie deutsche Führungskräfte, die in die Türkei entsendet werden. Hierfür habe ich mich als Interkulturelle Trainerin ausbilden lassen. Die Kenntnis der Lebens- und Arbeitskultur beider Länder ist hier von Vorteil. Mein Vater ist im Alter von 24 Jahren, im Mai 1964, das Deutsch-türkische Anwerbeabkommen lief bereits, mit dem Zug nach Deutschland gekommen. Seine Heimat war ein Dorf in Anatolien, südlich vom Schwarzen Meer. Das ganze Dorf hat ihn verabschiedet. Die Reise bis zum Treffpunkt in Istanbul dauerte schon allein drei Tage. Von dort ging es dann mit dem Zug über Land bis München. „Die Feldarbeiter entlang der Strecke winkten und wir auch, und als der Zug die Türkei verließ, an der Grenze zu Bulgarien, haben wir geweint“, erzählt mein Vater. In München angekommen wurden alle zur Weiterfahrt aufgeteilt, und mein Vater kam nach Niedersachsen.
Er hatte noch sechs Geschwister, die Familie stammte ursprünglich aus Georgien und war arm. So hat mein Großvater die Söhne für den Preis von vermutlich zwei Säcken Weizen für ein Jahr an Großgrundbesitzer abgegeben, als Arbeitskräfte in der Landwirtschaft, gegen Kost und Logis. Mein Vater hat dann Schafe gehütet.

Heimweh

Meine Mutter kam 1967, im Alter von 18 Jahren, aus dem gleichen Dorf. Das junge Paar lebte in einer Einzimmerwohnung. Deutsche Nachbarn von damals, die ich später einmal mit meiner Mutter auf dem Wochenmarkt traf, erzählten mir, sie habe oft schöne, aber traurige Lieder gesungen. Sie hatte Sehnsucht nach ihrem Dorf und war einsam. Dann kamen die Kinder, und später begann sie auch zu arbeiten. Durch die Arbeit und den Kontakt zu den Nachbarn hat sie sich gut eingelebt.
Ich bin die älteste von fünf Kindern und habe noch zwei Brüder und zwei Schwestern. In der Schule merkte ich schon, dass ich anders als die anderen Kinder war, allein daran, dass sie meinen Namen nie richtig aussprechen konnten. Die erste Generation der Gastarbeiter hat hier nicht mit dem Gedanken gelebt, zu bleiben. Sie waren sparsam, weil man ja zurückkehren wollte.
Meinen eigenen Weg musste ich mir als Mädchen und Älteste erkämpfen. Natürlich wollten meine Eltern auch, dass ich der Tradition folge. Meine Mutter hat mir Kochen, Hand- und Gartenarbeit beigebracht. Mir gaben Bücher, Mitschüler und Lehrer Orientierung. Ohne dass sie es vielleicht wissen, waren sie Vorbilder für mich. Eine meiner Lehrerinnen war eine alleinlebende, unabhängige Frau, die immer toll angezogen war und ein rotes Auto fuhr. So wollte ich auch einmal leben, unabhängig und frei. Und meiner Mutter war es auch immer wichtig, dass Mädchen eine Ausbildung erhalten und ihr eigenes Geld haben. Meine Eltern leben immer noch hier. Ich selbst reise meist beruflich in die Türkei, aber auch privat und bin in beiden Kulturen und überall zuhause.“

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Göksel Güner

Foto: Luc Hilderson / Komatsu Europe

„Ich bin erst nach Deutschland gekommen, nachdem ich in der Türkei Abitur gemacht hatte. Mein Vater, Yilmaz Güner, war der erste aus der Familie, der hier ankam, im Jahr 1974. Wir lebten im Großraum Istanbul, und mein Vater war Lehrer für Deutsch. Damals schickte die türkische Regierung auf der Basis eines weiteren Abkommens Lehrer hierher, die türkischen Gastarbeiterfamilien und ihren Kindern bei der Integration helfen sollten. Wenn die Kinder Probleme mit dem Erlernen der deutschen Sprache hatten, erhielten sie von zweisprachigen türkischen Lehrern Förderunterricht und Nachhilfestunden. Meine Mutter, sie war immer Hausfrau, blieb mit uns Kindern in der Türkei, denn eigentlich wollte unser Vater nur einige Jahre in Deutschland bleiben. Inzwischen hatte mein älterer Bruder aber sein Abitur gemacht und wollte die Chance nutzen, in Deutschland zu studieren. So folgte er unserem Vater und lebte mit ihm zusammen in Lehrte. 1980, als ich das Gymnasium beendet hatte, ich bin Jahrgang 1964, zogen meine Mutter und mein jüngerer Bruder und ich dann nach. Das war für mich ziemlich herausfordernd, denn zunächst musste ich ein Jahr lang Deutsch lernen, und mein türkisches Abitur wurde hier nicht anerkannt. Das habe ich dann an einem Studienkolleg der Uni Hannover noch einmal abgelegt. Nach einigen Praktika habe ich Maschinenbau studiert, ein sehr anspruchsvolles Studium, auf das ich mich ziemlich fokussieren musste. Für meine Diplomarbeit ging ich an die Uni Stuttgart, habe dort auch gewohnt, und danach war ich vier Jahre bei BMW in München. Ein Headhunter brachte mich schließlich zur Hanomag nach Hannover, wo ich die Chance sah, dass man etwas bewegen konnte. Mittlerweile bin ich schon dreißig Jahre hier. Heute heißt das Unternehmen Komatsu, und ich war, nachdem ich mich hochgearbeitet hatte, von 2003 bis 2020 Geschäftsführer und bin seit April letzten Jahres Komatsu Europa-Chef.
Auch mein älterer Bruder hat Maschinenbau studiert und ging zu Bosch, wo er international im Einsatz ist, mit langen Auslandsaufenthalten in China und Vietnam. Mein jüngerer Bruder ist bei Volkswagen tätig – also beide sind hier in Deutschland voll integriert.

Begegnung verschiedener Kulturen

Mein Vater hat sich hier wohlgefühlt. Sein beruflicher Einsatz für die Integration der Kinder war für ihn eine große Herausforderung, die ihm auch viel Spaß machte. Er war nicht nur in der Schule sehr engagiert, sondern wollte auch mit sozio-kulturellen Aktivitäten aktiv am Leben in Lehrte teilnehmen. Er gründete Vereine, gemeinsam mit der türkischen Gemeinde, und holte die Kinder der ersten türkischen Generation zum Beispiel in eine Folkloregruppe und einen Fußballverein. Dort wurde nach und nach auch gemeinsam mit deutschen Kindern trainiert, und bei den Wettkämpfen fand ja immer eine sportliche Begegnung der Kulturen statt.
Meine Frau heißt Sevil, sie ist auch türkischer Abstammung und Unternehmerin, Designerin für exklusive Damenmode, mit ihrem eigenen Label „Kokkon“. Das Besondere: Die gesamte Kollektion wird aus Seide hergestellt.
Wir haben drei Söhne. Der älteste studiert auch Maschinenbau, wie Papa, und die anderen beiden gehen noch zur Schule. Unser großer Bekannten- und Freundeskreis ist sehr gemischt. Wir haben deutsche, türkische und Freunde aus anderen Ländern – multikulturell.
Aber auch in die Türkei gibt es noch enge Verbindungen. Da ich erst spät nach Deutschland kam, kenne ich das Leben dort noch sehr gut. Ich habe in Istanbul einen gleichaltrigen Cousin, den ich immer treffe, wenn wir in der Türkei sind. Wir sind zusammen aufgewachsen, wie Brüder und haben immer noch intensiven Kontakt.“

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Hasan Kurtulus

Foto: Kurt Zeitarbeit

Sieben Jahre alt war Hasan Kurtulus, Gründer der Firma Kurt Zeitarbeit, als er im Winter 1969 nach Lehrte kam. Verwunderlich fand er damals vor allem die Weihnachtsbäume der Deutschen, warum wurden sie bloß mit brennenden Kerzen versehen? Sollten sie etwa angesteckt werden? Eine Anekdote, die Hasan Kurtulus aus jener Zeit erzählt, als seine Familie in Deutschland den Neuanfang wagte. Der Vater, ein konventioneller Zerspanungsmechaniker, war 1964 nach Deutschland gekommen. „Er gehörte zu den ersten 1000 Gastarbeitern, die nach Lehrte kamen.“ Hasan Kurtulus war der jüngste Sohn und hat noch drei Geschwister. Sein Vater begann sofort eine Beschäftigung im Bergbau als Facharbeiter. „Meine Mutter bekam eine sogenannte betriebsbezogene Arbeitserlaubnis und arbeitete in einer Schaumwaffelfabrik in Höver.“ Damals sei das Arbeiten auch ohne Sprachzertifikate möglich gewesen. Ohnehin habe es keine größeren Integrationsbemühungen seitens der deutschen Aufnahmegesellschaft gegeben. Die Gastarbeiter wurden deswegen aber nicht diskriminiert. Sie waren da und wurden akzeptiert. Lange wurde einfach geglaubt, sie würden ohnehin bald wieder zurückgehen, berichtet Kurtulus. „Als Kind in meiner Klasse habe ich mich wie ein Exot gefühlt – wie der Sohn eines Gastarbeiters.“ Rassistische Erfahrungen habe er aber nie gemacht.
Von seinen Eltern hat er das gelernt, was für seinen späteren Erfolg ausschlaggebend sein sollte – Disziplin. Nach dem erweiterten Realschulabschluß beginnt Kurtulus bei Wabco in Linden eine Ausbildung zum Maschinenschlosser. Aufgrund guter Leistung darf er ein Jahr früher auslernen. Mitten im Winter beendet er seine Lehre und hilft fortan seinem Vater, Möbel arbeitsloser Gastarbeiter zurück in die Türkei zu transportieren.

Niemals aufgeben

Helmut Kohl bietet den Rückkehrern 10.500 DM an. Einige türkische Gastarbeiter nehmen die Prämie an. Die Kurtulus wollen in ihrer neuen Heimat bleiben. Dann ein Rückschlag: Viel zu früh verstirbt 1983 Familienoberhaupt Baha Kurtulus. Der Jüngste der Familie strauchelt. Schafft seine Fachholschulreife nicht, aber aufgeben ist keine Option. Bei BASF beginnt er eine Tätigkeit als Vorrichter und leitet für zwei Jahre eine eigene Kolonne an. In ganz Deutschland ist Kurtulus auf Montage – verdient gutes Geld. Als ihm seine Frau mitteilt, dass sie schwanger sei und sich wünschen würden, dass er mehr zu Hause ist, beginnt er Ende 1987 eine Tätigkeit bei einer Zeitarbeitsfirma als Personaldisponent. Damit legt er unbewusst den Grundstein für eine glorreiche Zukunft. Die Tätigkeit gefällt ihm, sodass er sich 1991 mit seiner eigenen Zeitarbeitsfirma selbstständig macht. Mit dem Unternehmen Kurt Zeitarbeit, das 2019 30 Millionen Euro Umsatz erwirtschaftete und 850 Mitarbeiter in ganz Deutschland beschäftigt, feiert er im kommenden März dreißigjähriges Bestehen.
Disziplin, Zähigkeit und Widerstandkraft ist es, was die Gastarbeiter aller Völker der ersten Generation auszeichnete. Ihnen möchte Kurtulus passend zum sechzigjährigen Jubiläum des Anwerbeabkommens ein Denkmal setzen. „Niemand dieser Menschen erwartet einen Dank, aber eine Würdigung haben sie definitiv verdient.“ Die Skulptur wurde bei einer türkischen Künstlerin bereits in Auftrag gegeben. Sie zeigt einen Mann mit Hut und Koffer auf einer Bank. Die lebensgroße Bronzestatue soll möglichst vor dem City-Center an der Burgdorfer Straße in Lehrte stehen. Die Bank und der Koffer seien zentrale Symbole der Gastarbeiter der ersten Generation, erklärt Kurtulus. „Sie kamen nur mit einem Koffer nach Deutschland, worin sich ihr gesamtes Hab und Gut befand. Auf den Bänken der Stadt trafen sich die Männer zum Austausch im Freien.“ Der Kulturausschuss der Stadt Lehrte hat dem Projekt schon zugestimmt. Finanziert wird es von Hasan Kurtulus persönlich. „Die Skulptur ist eine Spende von mir. Sie steht für alle, die hierhergekommen sind, um als Gastarbeiter zu arbeiten – Spanier, Türken, Italiener oder Portugiesen. Das Kunstwerk ist ein Symbol der deutschen Wirtschaftsgeschichte.“

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