In einem Gebiet von über 600 Quadratkilometern fischt die Fischerflotte von Adriaan und Simon Leuschel vor Hörnum die Sylter Miesmsuchel. Drei Schiffe und sechs Kapitäne sind im Wechsel im Einsatz, um die Landwirtschaft unter Wasser zu betreiben. Eine Kutterfahrt mit Kapitän Olaf Kleye verrät, wie die Ernte abläuft und warum die meisten Hörnumer Miesmuscheln nicht auf deutschen Tellern landen und was es mit dem Muschelfrieden auf sich hat.
Text: Marleen Gaida Fotos: Lorena Kirste
Blau wie die kühle Nordsee leuchten die Augen von Kapitän Olaf Kleye – und das ist kein Klischee. Konzentriert schaut der 53-jährige Schiffsführer auf das Wattenmeer vor sich und auf die vielen Schalter und Knöpfe unter sich. Schnell huschen seine Hände von Hebel zu Hebel. Seine Finger wissen genau, welchen er wann betätigen muss, um das Schiff Wyk 9 Richtung Muschelfarmen zu lenken. Dass ihm zwei Journalistinnen beim Fischen im Wattenmeer über die Schulter gucken wollen, ist ihm zunächst nicht ganz geheuer, doch der ruhige Norddeutsche taut langsam auf.
„Wir haben aufgrund der Pandemie in diesem Jahr erst später im Juli angefangen zu fischen“, erklärt Olaf Kleye. Die äußeren Umstände sind dieses Jahr vielleicht anders, aber unterhalb der Meeresoberfläche läuft für die Muschelbauern alles nach Plan. Der Großteil der Ernte wurde für dieses Jahr schon eingefahren.
Mit der Mindestbesatzung, bedeutet zwei Mann, ist er an diesem Tag unterwegs. Die polnischen Fischer Marek und Lukas begleiten ihn. Die Saison ist Ende September für die Männer, die im Auftrag der AL Nordsee Muscheln unterwegs sind, fast vorbei. Drei von insgesamt acht Lizenzen zum Fischen, drei Kutter im ständigen Einsatz hat der Fischereibetrieb von Adriaan und seinem Bruder Simon Leuschel im Nationalpark Wattenmeer vor Hörnum.
Saatmuschelgewinnungsanlagen statt Wildfang
Wurden die Miesmuscheln früher noch wild gefischt, kultivieren die Miesmuschelfischer vor Hörnum sie mittlerweile mithilfe sogenannter Saatmuschelgewinnungsanlagen (SMA). Hundert Meter lange Netze hängen in Reihen an Schwimmkörpern senkrecht im Wasser. An ihnen siedeln sich die Muschellarven zur Laichzeit an. Dort reifen sie zu sogenannten Besatzmuscheln heran, um an anderer Stelle als Bodenkultur in Muschelbänken angesetzt binnen mehrerer Jahre zur finalen Größe heranzuwachsen. Dabei können sie von den Fischern mehrmals umgesetzt werden, um optimale Bodenbedingungen für die Aufzucht zu nutzen.
Trotz Technologie und moderner Kultur-Fischerei haben Miesmuscheln natürliche Feinde. Da wären zum Beispiel Stürme, weil sie die Schalentiere mit sich davontragen, aber auch Enten und Seesterne, von denen sie ausgesaugt werden, und Krebse, die die Delikatesse aufknacken und fressen. „Die Muschel ist und bleibt ein Naturprodukt“, sagt Kleye.
Unternehmer und Kapitän Adriaan Leuschel und sein Team finden vor Hörnum dennoch die besten Voraussetzungen für den Muschelanbau vor. „Das Wasser vor Hörnum hat eine super Qualität. Es gibt wenig Sediment in der Wassersäule“, erklärt Leuschel. Seit 1985 fischt er Miesmuscheln vor Hörnum, die er in ganz Europa vertreibt. „Zu viel Sediment ist Stress für die Miesmuschel.“ Das „reine“ Wasser, also ohne viele Sandpartikel, sei auch der Grund für die weiße Farbe des Muschelfleischs. Leuschel hofft, dass seine Miesmuscheln von bester Qualität bezüglich Größe und Fleischanteil auch irgendwann vermehrt im deutschen Supermarkt zu finden sind. Wenn es nach ihm ginge, ist es bereits ab 2021 so weit. Bisher sind die Muscheln vor allem für den Export bestimmt. Von Hörnum gehen in der Hauptsaison von Juli bis August circa sieben bis acht Kühl-Lkw am Tag in die Niederlande ins 850 Kilometer entfernte Yerseke. In der Fabrik kommen die Muscheln in ein großes Becken mit Wasser und haben eine Nacht Zeit, den Sand „auszuspucken“. Die Muschel reinigt ihr Inneres sozusagen selbst. Am nächsten Tag werden sie geputzt und für den Großhandel in Säcke abgepackt.
Aktuell gehen die besten Qualitätssorten direkt zu den Belgiern. Die seien verrückt nach Muscheln der großen Sorte und auch bereit, für ihre „moules et frites“ den höchsten Preis zu zahlen, erklärt Leuschel. Die Niederlande sind der zweitgrößte Absatzmarkt für die Sylter Miesmuscheln, erst dann folgen auf Platz drei Deutschland und dahinter Frankreich, wo eher die kleinen Exemplare gefragt sind. Konkurrenz macht den Sylter Miesmuschelfischern vor allem das Billigsegment aus Dänemark. Mit den anderen Muschelfischern des Wattenmeers hingegen arbeite man kollegial zusammen, ist in der Erzeugerorganisation schleswig-holsteinischer Muschelzüchter vernetzt.
Historischer Muschelfrieden 2017
Immer wieder mussten sich Fischer wie Adriaan Leuschel in den vergangenen Jahren mit Umweltverbänden auseinandersetzen, die sich um den Erhalt des Nationalparks Wattenmeer und die heimischen Arten sorgten. Jahrelang kämpften Fischer und Naturschützer erbittert gegeneinander. Am 4. April 2017 schlossen die Fischer mit Robert Habeck, damals Umwelt- und Fischereiminister Schleswig-Holsteins, den berühmten „Muschelfrieden“, was für die Muschelzüchter von Hörnum viele Zugeständnisse bedeutete. Etwa 87 Prozent der Nationalparkfläche sind seitdem frei von Muschelfischerei und Muschelkulturwirtschaft, die Kulturfläche im Wattenmeer wurde von 2.300 Hektar auf 1.700 Hektar reduziert.
Davon dürfen bis zu 250 Hektar für Saatmuschelgewinnungsanlagen genutzt werden. „Die Fischerei auf wild lebende junge Besatzmuscheln wurde eingeschränkt. Sie ist nur noch in vier von acht großen Watteinzugsgebietem zulässig“, erklärt Olaf Kleye. Dennoch hat Leuschel im Nachgang nur lobende Worte für die Verhandlungen mit dem Grünen-Politiker: „Habeck hat sich sehr viel Mühe gegeben, die Einigung herbeizuführen.“ Für Leuschel und die anderen Fischer geht es seit dem Frieden mit den Naturschützern ruhiger weiter – beschränkt, aber weiter. Bis 2031 laufen die Verträge des Landes Schleswig-Holstein mit den Muschelerzeugern.
Für Kapitän Kleye endet die Arbeitszeit schon vor dem Jahr 2031, dann, wenn in etwa drei Jahren sein Ruhestand beginnt. Aber ans Aufhören will der Kapitän – oder wie er sagt: „Bauer auf See“ – noch lange nicht denken.
Kleye ist mit dem Schiff verbunden, wie es nur Kapitäne sein können. Er arbeitet und lebt dort. „Aufstehen, Zähneputzen, Kaffee kochen. Dann schaue ich aus dem Fenster und beobachte das Wetter.“ Seit er 23 Jahre alt ist, fährt er zur See. Ein Leben ohne Meer und Fischerei – für ihn undenkbar. Ein Leben ohne alltägliche Routine mit seiner Ehefrau schon eher. Die Beziehung mit einem Kapitän sei Distanz ohnehin gewöhnt, erklärt er den neugierigen Besucherinnen. Wochenlang sei er oft auf See, ohne ein Familienmitglied zu sehen. Wer mit ihm reden will, muss auf den Kutter kommen.
Aber auch aus ganz pragmatischen Gründen kann er nicht mit dem Fischen aufhören, und die interessieren vor allem seinen Chef: „Wir brauchen Kapitännachwuchs, aber den haben wir nicht.“ Und so werden seine Hände weiterhin flink die Kutter von Adriaan Leuschel bedienen. Was Kleye mit der vermehrten Freizeit anfangen sollte, ist dem Mann der Meere ohnehin nicht klar. Sein Revier ist hier.