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Einwanderungsland Niedersachsen – wo stehen wir heute?

05. Oktober 2021

Doris Schröder-Köpf, SPD-Landtagsabgeordnete und Niedersächsische Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe, berichtet von ihren Erfahrungen aus Begegnungen mit Migranten und Flüchtlingen sowie Unternehmen und Organisationen.
Interview: Marleen Gaida  Fotos: Nadja Mahjoub
Frau Schröder-Köpf, Polen, Türken, Spanier: In Niedersachsen leben besonders viele Mitbürger aus diesen Bevölkerungsgruppen und das oft schon in der zweiten und dritten Generation. Wie steht es um die Integration und Teilhabe im Jahr 2021?
Schröder-Köpf: Ich finde, wir sollten die Integration der Folgegenerationen pauschal gar nicht infrage stellen. Die meisten Angehörigen und Nachfahren der ersten Gastarbeiter-Generation, die in Deutschland bis heute leben, haben längst die deutsche Staatsangehörigkeit. Bezogen auf die Teilhabe ist das Bild natürlich nicht einheitlich, es kann nicht einheitlich sein. Schauen Sie sich einmal die gerade abgeschlossenen Kommunalwahlen an, z.B. in Hannover: Der Oberbürgermeister ist türkischer Abstammung, der SPD-Co-Vorsitzende hat bosnische Wurzeln. Überall sind die Folgegenerationen in politischen Organisationen vertreten, wenngleich gemessen an ihrem Bevölkerungsanteil noch längst nicht ausreichend. Dasselbe gilt für Wissenschaft, Kunst, Kultur, Wirtschaft etc. Natürlich dürfen wir bei diesem positiven Bild nicht diejenigen vergessen, die auf der Schattenseite stehen. Diejenigen, über die in den Medien berichtet wird: Von Gewalt betroffene Frauen, ein überproportionaler Anteil junger Männer an Schulabbrechern, in Extremismus abrutschende Jugendliche. Diese Fragen und Probleme begleiten jede Migration, sind Begleiterscheinungen, wie die Erfolgsgeschichten auch. Wie sagt man im Türkischen: „Rosen bekommt man nicht ohne die Dornen geschenkt.“
Welche besondere Rolle nehmen Frauen der ersten Generation der Gastarbeiter aus der Türkei ein? Über sie wird wenig geredet.
Schröder-Köpf: Lange Zeit war das Bild der „Gastarbeiter“ stark männlich geprägt; der stetig wachsende Teil der weiblichen Gastarbeiter blieb auch in der historischen Betrachtung völlig unbeachtet. Dabei waren viele von ihnen als junge Arbeitskräfte gekommen, weil die westdeutsche Wirtschaft ein großes Interesse an ihnen hatte, etwa in der Textil- und Elektroindustrie. Denken Sie nur an Unternehmen wie Telefunken in Hannover oder Bosch-Blaupunkt in Hildesheim. Ohne die Gastarbeiterinnen wäre der Erfolg dieser Unternehmen nicht möglich gewesen. Diese Frauen waren die Haupternährerinnen ihrer Familien. Ihre Männer holten sie später nach oder fanden ihre Partner erst in der Migration, damals sagte man „in der Fremde“. Über alldem aber trugen die Frauen der ersten Generation zuhause oft die Last der Familie, während die Männer von früh bis spät arbeiteten. An Integrationskurse, die es damals ohnehin kaum gab, war also gar nicht zu denken. Ganz klar: Die Frauen hatten einen ganz wichtigen Anteil am Verdienst, den die „Gastarbeiter“ insgesamt am wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand der Bundesrepublik hatten.
Wo sehen Sie als Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe derzeit die größten gesellschaftlichen Herausforderungen in Bezug auf die Integration von Flüchtlingen.
Seit Januar 2015 sind in Niedersachsen insgesamt 114.000 Personen als Asylberechtigte oder Flüchtlinge anerkannt worden. Zu Zeiten der starken Zuzugszahlen geflüchteter Menschen 2015/16 bestand die größte Herausforderung noch darin, den Neuangekommenen eine Unterkunft und Zugang zu Integrationsangeboten zu verschaffen. Dabei hat man trotz etlicher Schwierigkeiten aus den Fehlern der Vergangenheit Lehren gezogen. Große Anstrengungen wurden bei der Arbeitsmarktintegration unternommen, z.T. mit Erfolg. Laut Bundesagentur für Arbeit (Juli 2021) haben seit 2015 rund 51.300 Geflüchtete eine Beschäftigung am ersten Arbeitsmarkt aufgenommen. Aber es bleibt hier natürlich noch sehr viel zu tun, Geduld und Zeit ist vonnöten. Wir wissen ja mittlerweile, dass sich Integrationswege zumeist über viele Jahre, manchmal sogar Jahrzehnte vollziehen. Als eine weitere große Zukunftsaufgabe sehe ich es aber, die Akzeptanz von Geflüchteten in der Gesellschaft, die Anerkennung ihrer Lebensleistungen und oft beschwerlichen Lebenslagen zu stärken.
Gastarbeiter gibt es so in dieser Form nicht mehr. Welches sind die Hauptgründe, warum Menschen aus den verschiedenen Ländern heute nach Niedersachsen kommen?
Migration hat viele Gründe, Motive und Formen: Auf der einen Seite sind Menschen erzwungenermaßen zu uns gekommen, weil sie aufgrund von Krieg, Hunger, Klimakatastrophen oder politischer Verfolgung nicht mehr in ihren Heimatländern bleiben konnten. Heute leben rund 140.000 Menschen mit Fluchterfahrungen in Niedersachsen. Auf der anderen Seite ist unser Bundesland Ziel von Menschen besonders aus dem EU-Ausland gewesen, die hier Arbeit gesucht und gefunden haben: z.B. aus Polen, Rumänien, Bulgarien. Waren es vor vielen Jahrzehnten die sogenannten „Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter“, sind es heute insbesondere Menschen aus dem osteuropäischen Raum. Man muss aber auch generell sagen: Niedersachsen hat seit Beginn seiner Geschichte ein vielfältiges Migrationsgeschehen erlebt. Von 7,8 Mio. Bürgerinnen und Bürger haben 1,7 Mio. eine Zuwanderungsbiografie.

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