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Der Sound von der Leine: Hannovers Weg zur „City of Music”

01. August 2022

Noch immer sorgt Hannovers Bedeutung als Musikmetropole für erstaunte Reaktionen – und das teilweise auch innerhalb der Stadt. Dabei verfügt die Leinestadt über ein großes musikalisches Erbe und viel Potenzial für die Zukunft.
Text: Vanessa Erstmann  Foto: Stefan Neuenhausen
Hannover? Ohne Witz!“ titelte „DIE ZEIT“ im Frühjahr 2016, nachdem der weltberühmte Dirigent Ingo Metzmacher bekannt gegeben hatte, in seiner Geburtsstadt Hannover ein Musikfestival von Metropolenformat veranstalten zu wollen.
Ähnlich erstaunte Reaktionen hatten sieben Jahre zuvor die Resultate einer Musikstudie hervorgerufen, die – wider Erwarten – Hannover den Spitzenplatz unter den Städten mit den meisten Beschäftigten in der Musikwirtschaft zubilligte. Auch in Hannover selbst war die Verblüffung zunächst groß.
Als sich die Stadt auf Initiative von Hannovers Kreativwirtschaft auch noch erfolgreich um den Titel „City of Music“ bewarb, dämmerte selbst den Skeptikern, dass Hannover über eine herausragende musikalische Qualität verfügen muss. „Wir haben’s ja schon immer gewusst, wir haben’s nur nicht gewagt auszusprechen: Wir sind doch irgendwie wer!“ Mit diesen Worten brachte Dr. Benedikt Poensgen, der ehemalige Leiter des hannoversches Kulturbüros, die zurückhaltende Mentalität auf den Punkt, mit der sich die Stadt einmal mehr fast selbst um die Anerkennung gebracht hätte.
Dabei zeigte sich die Stadtverwaltung zunächst zögerlich, hielt die Bewerbung als „UNESCO City of Music“ gar für vermessen. Es ist in erster Linie den energischen Bemühungen des kreHtiv Netzwerk Hannover und den Kooperationspartnern aus der lokalen Musikszene zu verdanken, dass Hannover im Jahr 2014 den Titel erhielt und damit in das weltweite Netzwerk der Creative Cities aufgenommen wurde.

Foto: Luisa Verfürth – International berühmte Stadtkinder: die Scorpions

Eine Stadt voller Musik

Von Georg Friedrich Händel über Thomas Quasthoff, Heinz-Rudolf Kunze und Lena Meyer-Landrut bis hin zu den Scorpions, Mousse T. und Fury in the Slaughterhouse – die Liste der Musiker und Musikerinnen „made in Hannover“ kann sich sehen lassen.
„Hannover hat sehr viel zu bieten“, sagt auch Hannovers Kulturdezernentin Konstanze Beckedorf, „von erstklassigen musikalischen Ausbildungen über die Beteiligungsmöglichkeiten in den zahlreichen Chören bis hin zu der breit gefächerten musikalischen Szene.“ Aushängeschilder der Musikstadt Hannover sind für Beckedorf etwa die Clubszene, die Festivallandschaft und die musikalischen Großveranstaltungen.
Zu den Argumenten, die 2012 in der Bewerbung um den Titel „City of Music“ aufgezählt wurden, zählten daher auch Hannovers Spitzenchöre und bedeutende Bildungsinstitutionen wie die Hochschule für Musik, Theater und Medien, die Deutsche POP/Akademie der Musik- und Medienbranche oder das MusikZentrum Hannover.
Sabine Busmann, die langjährige Geschäftsführerin des MusikZentrums, verweist auf das Potenzial der bunten Musikstadt Hannover, das sich vor allem bei den lokalen Musikfestivals entfaltet: „Die alljährlich stattfindende Fête de la Musique mit über 800 beteiligten Musikern und Musikerinnen und einem hohen bürgerschaftlichen Engagement bildet das hervorragend ab.“ Neben der Fête de la Musique sei unter anderem auf die A-cappella-Woche, die KunstFestSpiele Herrenhausen, das Weltbeat-Festival Masala und das Jazzfestival Enercity Swinging Hannover verwiesen. Letzteres lockt seit mehr als 50 Jahren Zehntausende vor das Neue Rathaus und festigte damit den Ruf Hannovers als heimliche Hauptstadt des Jazz.
Denn nicht in der schon damals vor Vitalität flirrenden Metropole Berlin begann 1924 das „deutsche Zeitalter des Jazz“ – sondern in Hannover, mit einem Sensationsgastspiel des ersten amerikanischen Jazzimports. Bis heute gilt die Stadt dank der lebendigen Jazzszene und des international bekannten Jazz Clubs als Jazzmetropole.
Aber auch andere Musikstile haben hier eine Heimat gefunden. Wenn die ersten Töne des Klassik Open Airs im illuminierten Maschpark erklingen, kann sich niemand dem Zauber des Moments entziehen. Eliah Sakakushev-von Bismarck, geschäftsführender Direktor der Siegmund Seligmann Gesellschaft, beschreibt Hannover als ein weltoffenes Kulturforum, „in dem Kreativität und Inspiration im Austausch gelebt werden.“ Dies zeige sich immer wieder bei den musikalischen Veranstaltungen in der Villa Seligmann, dem Haus der jüdischen Musik, dessen Programm er als künstlerischer Leiter verantwortet.

Foto: Jan-Gerrit Schäfer – Im Jazz Club: Swing, Soul, Blues, Funk und Latin Jazz

Hannover als musikalischer Hotspot

Die Leinestadt beheimatete im Laufe der Zeit etliche kleine und große Veranstaltungen. Dahinter verbarg sich damals wie heute eine erfolgreiche Musikwirtschaft, die als „Motor für die Musik“ das vielfältige musikalische Veranstaltungsleben der Stadt überhaupt erst möglich machte. Dank erfolgreicher lokaler Konzertveranstalter wie „Hannover Concerts“ erlangte Hannover bereits ab 1982 den Ruf einer Open-Air-Stadt, die regelmäßig große Pop- und Rockstars auf die hannoverschen Bühnen holte: Ob die Rolling Stones, Michael Jackson, Tina Turner, Prince, Pink Floyd, Madonna oder Robbie Williams – sie alle waren hier.
Einer, der maßgeblichen Anteil an dieser Entwicklung hatte, ist Michael Lohmann, Mitbegründer von Hannover Concerts. Bis heute verfolgt Lohmann die Entwicklung der Musikstadt Hannover und resümiert: „Ich habe als Mitglied der Steuerungsgruppe ‚Unesco City of Music‘ stets gern aktiv dazu beigetragen, dass sich Hannover als Musikstadt auch überregional etabliert und werde dies auch weiterhin tun. Allerdings gibt es zur Weiterentwicklung viel zu tun, und derzeit fehlen mir ein wenig die Perspektive und die finanziellen Mittel, um das in unserer Stadt festigen und ausbauen zu können.“
Tatsächlich mehren sich in der hannoverschen Musikszene seit einigen Jahren die kritischen Stimmen, die mehr oder weniger deutlich äußern, dass sie sich von dem Titel „UNESCO City of Music“ mehr Auswirkungen erhofft hätten.
Oliver Perau, Gründer der Rockband Terry Hoax, formuliert es so: „Ich durfte damals einen kleinen Teil dazu beitragen, dass Hannover den Zuschlag erhielt, indem ich den Bewerbungssong schrieb. Ob sich der errungene Titel wirklich für die Musikszene bezahlt machte, kann ich schwer beurteilen.“ In diesem Zusammenhang wird vor allem bemängelt, dass Hannovers musikalische Vorzüge bislang zu wenig nach außen gedrungen seien, obwohl die Stadt über einen so reichen Musikschatz verfügt.

Mobiler Klang aus Hannover

Das ultimative Argument, das Hannover zu einer Weltmusikhauptstadt par excellence macht, ist die Tatsache, dass die Stadt gleich mit mehreren Tonträgermedien den mobilen Klang in die Welt brachte. Den Anfang machte der Erfinder des Grammophons, Emil Berliner, der 1898 die ersten Platten in Hannovers Nordstadt presste. Einige Jahre später produzierte seine Schallplattenfabrik bereits über sechs Millionen Platten pro Jahr und versorgte die ganze Welt mit Musikqualität aus Hannover. In den frühen 1950er-Jahren gingen hier die ersten LPs vom Band. Auch die ersten Musikkassetten und CDs gingen zuerst in Hannover in Serienfertigung. Und schließlich entwickelten vor rund 30 Jahren einige schlaue Köpfe an der hiesigen Universität den MP3-Standard, das bis heute gängige Komprimierungsverfahren von Musik.
Darüber hinaus haben in Hannover Aufnahmestudios ihren Sitz, die als führend in Europa gelten – allen voran der Peppermint Park. Wolfgang Sick, CEO des Peppermint Parks, hat bereits mit Alicia Keys, Tom Jones, Simply Red, Phil Collins und kürzlich ein weiteres Mal mit den Scorpions zusammengearbeitet. „Hannover ist für mich die Stadt der vielen Talente“, sagt er. „Ich bin immer wieder überrascht, wie viel es hier zu entdecken gibt und es macht Spaß, bei der Entwicklung von Künstlern dabei sein zu dürfen.“
Es liegt auf der Hand: die Landeshauptstadt Hannover verfügt über ausreichend musikalisches Potenzial – es muss nur angemessen vermarktet werden.

Beide Fotos links: Historisches Museum Hannover – Der Hund „Nipper“ wurde zum Markenzeichen des Unternehmens – Slogan und Bild gehen auf ein Gemälde des Malers Francis Barraud zurück.

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