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Cottagecore - Backhaus in Barsinghausen

Cottagecore – Landlust 2.0

25. Februar 2021

„Cottagecore“ ein Trend, den viele Menschen gerade auf social media feiern. Ein Trendforscher erklärt, woher die Sehnsucht nach dem idealisierten ländlichen Leben kommt; und warum hier auch die Nostalgie eine große Rolle spielt.

Text: Helene Kilb, Titelbild: Lorena Kirste

Cottagecore – was bedeutet das eigentlich?

Es sind Dinge wie selbstgebackenes Brot, Strickpullover und Wälder voller Herbstlaub, die gerade viele Menschen auf den sozialen Medien begeistern, Bilder von Aquarellen, Blumenstickereien oder Küchen mit farbigen Holzfronten und Emaillekannen auf der Arbeitsfläche.
Der Stil, der gerade in zahlreichen Lebensbereichen wie Einrichtung, Mode oder Freizeitgestaltung Einzug hält, nennt sich „Cottagecore“, auf Deutsch „Landhaus extrem“. Das amerikanische Unternehmen Roofing Megastore, das mithilfe von Google Trends die beliebtesten Suchanfragen im Interior-Bereich analysiert hat, sieht in dem Stil sogar den größten Designtrend für 2021. Das neue alte Lebens­gefühl, nach dem sich offensichtlich gerade so viele Menschen sehnen, scheint fast wie aus einer Landzeitschrift entsprungen: Zentrale Elemente sind traditionelle Handwerke und Fertigkeiten wie Brotbacken, Töpfern, Häkeln und Stricken.
Passend dazu werden beispielsweise auf Instagram unter dem Hashtag #cottagecore Bilder von Natursteinhäuschen mit hölzernen Fensterläden veröffentlicht, von Gemüse aus dem eigenen Garten, von frisch gepflückten Pilzen und Tier­stickereien auf Jutestoff. Auch die Natur spielt eine große Rolle, egal ob als Fotohintergrund oder Dekomaterial.

Trendforscher Tristan Horx
Der Trend- und Zukunftsforscher Tristan Horx erklärt, wo die Cottagecore-Bewegung herkommt. Foto: Klaus Vyhnalek

Doch woher kommt diese allgemeine Sehnsucht nach dem Einfachen, Verlässlichen und scheinbar Echten? „Das ist sicherlich ein Gegentrend als Reaktion auf die Überdigitalisierung und die Beschleunigung der Gesellschaft“, sagt Tristan Horx. Er arbeitet als Trendforscher beim Zukunftsinstitut, einem der bekanntesten Unternehmen für Trend- und Zukunftsforschung, und tritt darüber hinaus als Dozent für diesen Fachbereich an der SRH Hochschule Heidelberg auf. Er sieht die Rückbesinnung auf die traditionellen, oft zeitintensiven Tätigkeiten als einen von vielen „Entschleunigungstrends“, den die Corona-Krise noch einmal verstärkt habe, denn: „In Zeiten einer Krise erinnern sich viele daran zurück, als alles noch einfach war.“ Und zeitintensive Beschäftigungen wie Gemüse einlegen, Brot backen oder einen Schal häkeln, sagt Horx, hätten viele Menschen sicher schon vorher begeistert – während des Lockdowns hätten diese aber die Zeit gehabt, sie auch einmal selbst auszuprobieren.

Cottagecore: Nostalgie als Bewältigungsstrategie

Darüber hinaus scheint der Stil auch von seiner nostalgischen Weltsicht zu leben – die gewissermaßen unserer Natur entspricht. „Nostalgie ist eine Illusion, die im Kopf entsteht“, erklärt der Trendforscher Horx. „Sie begründet sich dadurch, wie wir als Menschen gebaut sind. Von allen Erlebnissen, die wir in der Vergangenheit hatten, verdrängen oder verarbeiten wir die negativen. Auf diese Weise bleiben nur positive Assoziationen. Somit entsteht eine Verzerrung dessen, wie die Vergangenheit wirklich war.“ Nostalgie kann sich sowohl auf eigene Erinnerungen beziehen als auch auf Dinge, die man gar nicht selbst erlebt hat. Schaut man sich die vielen Inspirationen rund um das Thema Cottagecore an, bestätigt sich der Eindruck, dass das Gefühl den Trend erst möglich macht: Auf den Bildern scheint das entschleunigte, weil ländliche Leben überaus idyllisch und zutiefst befriedigend. Es gibt keinen Hinweis darauf, wie mühsam es zum Beispiel ist, Brotteig mit den Händen zu kneten, zum Backen erst den Ofen anfeuern zu müssen oder Wolle vor dem Stricken erst einmal zu Garn zu spinnen – ganz zu schweigen von einem Leben ohne Internet und ohne fließendes warmes Wasser.

Frau in ländlichen Klamotten steht in einem Beet mit einem Korb voll Kürbisse Cottagecore
Cottagecore: die Sehnsucht nach dem traditionellen, ländlichen Leben. Foto: Caterina Trimarchi – stock.adobe.com

Dennoch sieht Horx das Phänomen Cottagecore als Chance. „In dem Moment, in dem viele Menschen den Raum hatten, die Dinge auszuprobieren“, sagt er, „sind sicherlich einige darauf gekommen, dass sie Brotbacken total doof finden und nicht mehr machen wollen, genauso wie es Menschen gibt, die das in ihr Kulturtechnikrepertoire aufnehmen“ – und dadurch auch langfristig von diesen Tätigkeiten und der damit verbundenen Entschleunigung profitieren.
Statt sich allzu intensiv der Nostalgie hinzugeben, rät Horx allerdings dazu, sich eine positive Zukunftsvision zu schaffen. Psychologisch gesehen sei es nämlich so, dass man sich unterbewusst genau so verhalte, dass die gewählte Vision wahr werde.

Cottagecore in Hannover: Hier erleben Sie den neuen Trend!

Cottagecore erleben: Brot backen in Barsinghausen

Wer in die vielseitige Welt des Brotbackens eintauchen will, sollte dem Verein Backhaus Barrigsen einen Besuch abstatten: Dort findet am letzten Samstag eines jeden Monats ein Backtag statt. Angefangen hat alles mit einem mobilen Ofen, den der erste Vorsitzende Harald Wieder zum Tag des offenen Denkmals 2003 in einer Gemeinschaftsaktion mit den Dorfbewohnern errichtet hat. 2010 folgte ein Backhaus aus alten Fachwerkteilen. „Gutes Brot braucht nur Mehl, Wasser, Salz und Zeit“, sagt Wieder, „gleichzeitig ist es eine ganz eigene Wissenschaft.“ Seit er selbst damit begonnen hat, ist das Interesse gerade bei jungen Menschen stark gewachsen. Kein Wunder, findet er: „Man fängt unbedarft an, dann merkt man, wie viel man experimentieren kann.“

Backhaus Barrigsen e. V.
Am Hänken 4
30890 Barsinghausen
www.backhaus-barrigsen.de

Rund 18 Kilometer von Hannover entfernt liegt die Stadt Barsinghausen. Im Ortsteil Barringsen haben die Bewohner ein Backhaus errichtet. Fotos: Lorena Kirste

Geschirr bemalen im Porzellancafé

Selbst getöpfert wird im Porzellancafé nicht – dafür dürfen sich die Gäste gleich dem noch kreativeren Teil der Geschirr-Gestaltung widmen. Mithilfe von Farben, Pinseln und Hilfsmitteln wie Stempeln, Schablonen oder Aufklebern entsteht aus Keramik-­Rohlingen individuelles Geschirr. Das Konzept stammt aus München: Dort landete die Hannoveranerin Alexandra Fries zum ersten Mal in einem solchen Café. Sie war zunächst skeptisch, trank dann aber Kaffee, bemalte Geschirr – und trat unglaublich entspannt wieder aus dem Laden heraus. „Ich hatte Raum und Zeit um mich herum vergessen“, erzählt Fries, „es war wie Yoga auf dem Teller.“ Passenderweise hatte sie ihren Job ohnehin gekündigt und sich ursprünglich als Beraterin selbstständig machen wollen. Stattdessen eröffnete die 50-Jährige im Juni 2012 das Porzellancafé in der Südstadt und 2016 ein weiteres in der List.

Porzellancafé Südstadt
Dieckmannstraße 1
30171 Hannover
Tel. 0511 54 57 68 81
Porzellancafé List
Jakobistraße 20
30163 Hannover
Tel. 0511 62 87 01
www.porzellancafé.de

Alexandra Fries hat keine künstlerische Ausbildung. Das ist Teil des Konzepts: „Jeder kann malen“, sagt sie. Fotos: Lorena Kirste

Süße Kunstwerke schaffen bei „Bake me smile“

Von Törtchen mit dekorativem Topping über obstbedeckten Rührteig bis hin zum angesagten Drip Cake – in Sandra Stötzers Backschule „Bake me smile“ am Pelikanplatz lässt sich nahezu jede Kuchenbacktechnik erlernen. Sie selbst blickt auf 18 Jahre Backerfahrung zurück, die sie unter anderem durch ihre Arbeit in einem eigenen Café und in verschiedenen Konditoreien gesammelt hat und nun an ihre Kursbesucher weitergibt. Ein Angebot, das ankommt: Obwohl Stötzer ihre Backschule erst 2017 gegründet hat, sind viele ihrer Kurse schon frühzeitig ausgebucht; dank Corona sei die Nachfrage noch weiter angestiegen. „Backen macht glücklich“, sagt Stötzer dazu, „Oft kommen die Teilnehmer am Anfang eines Kurses in die Backschule, sehen eine der dort ausgestellten Beispieltorten und sagen: ‚Das schaffe ich nie!‘ Genau das ist aber noch nie passiert.“ Stattdessen seien die Teilnehmer dann umso begeisterter von dem, was sie geschaffen haben.

Backschule Bake me smile
Pelikanplatz 35, 30177 Hannover
Tel. 0511 20308518
www.bakemesmile.de

In und auf den Kuchen kommen bei Sandra Stötzer nur die besten Zutaten. Fotos: Sandra Stötzer

Im Strickcafé die Nadeln tanzen lassen

Bunte Knäuel füllen bei Wollkultur die Regale, auf dem Sideboard davor liegen Magazine mit Strickmustern und Mode-Ideen. Doch das Wichtigste ist die gute Seele des Ladens: die Besitzerin Sophie Zeier Möller. Nachdem sie 2006 von der Schweiz nach Niedersachsen gezogen und nicht direkt einen Job gefunden hatte, ­beschloss sie, sich mit ihrem Hobby selbstständig zu machen – und eröffnete ihr eigenes Geschäft. Zusätzlich gründete sie ein Strickcafé, bei dem einmal im ­Monat eine Gruppe von Handarbeitsbegeisterten zum gemeinsamen Sitzen, Klönen und Stricken zusammenkam. Aus einem Termin im Monat wurden drei; dazu kamen Strickkurse insbesondere für Anfänger. Ein voller Erfolg: „Mit zunehmender Aktivität am PC tagsüber wollen immer mehr Menschen abends etwas Krea­tives schaffen“, sagt Zeier Möller, „etwas, was man in den Händen halten und bei dem man den Fortschritt beobachten kann.“

WollKultur
Sallstraße 81
30171 Hannover
Tel. 0511 3009622
www.wollkultur.de

Von Kindheit an begeistert sich Sophie Zeier Möller für Wolle. Fotos: Lorena Kirste

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