Das Schauspiel Hannover hat auch den Unterhaltungsfaktor fest im Blick. Der musikalische Abend „Luft“ ist dafür das beste Beispiel.
Text: Jörg Worat, Fotos: Kerstin Schomburg
Was braucht man wie die Luft zum Atmen? Die Luft zum Atmen. Das Thema ist aus bekannten Gründen seit einigen Jahren besonders stark in den Vordergrund gerückt, und „Luft“ heißt nun auch ein Liederabend, der das Uraufführungspublikum im Schauspielhaus wortwörtlich von den Sitzen gerissen hat – zwar sind die Besucher bei diesen Anlässen in Hannover ohnehin fast immer höchst wohlwollend gestimmt, eine derart enthusiastische Reaktion erlebt man aber nur selten. Gefühlt hätte man sich kaum wundern dürfen, wenn das Ensemble nach dem Schlussapplaus im Triumphzug durch die Straßen getragen worden wäre.
Ist dieser überbordende Jubel indes angemessen? Wie man‘s nimmt. Zweierlei ist klar: Das Genre „theatraler Liederabend“ hat im Vergleich zu Darbietungen aus früherer Zeit inzwischen ganz andere Dimensionen erreicht, und was Anja Herden, eine der profiliertesten Darstellerinnen im hannoverschen Ensemble und mit Regiearbeiten durchaus vertraut, ihrer „Ode an den Odem“ mitgegeben hat, ist ebenso schlau wie unterhaltsam.
Denn „Luft“ ist eben kein reines „Corona-Stück“, wenngleich der Keim dafür aus Lockdown-Zeiten stammt und das Postulat „Nicht anfassen!“, das an diesem Abend mehrfach erklingt, durch das Virus und den Umgang damit einen speziellen Beigeschmack bekommen hat.
Aber wie steht es denn im übergeordneten Sinn um so etwas wie „echte Begegnungen“? Ist so etwas möglich, ja, ist es überhaupt erwünscht? Die fünf Gestalten, die bei „Luft“ die Bühne bevölkern, tun sich damit jedenfalls sehr schwer – alles andere wäre angesichts solch unterschiedlicher Charaktere auch mehr als erstaunlich.
Abstruse Kombinationen
Eine zugleich weich und massiv wirkende Wolke schwebt über der Szenerie (Bühnenbild: Florence Schreiber), und wolkig scheint es auch in den Köpfen dieser Figuren zuzugehen. Torben Kessler philosophiert in der Rolle eines Apnoetauchers über den allerersten Atemzug und den Lebenshauch als solchen, während sich Tabitha Frehner als verschüchtertes Dusselchen Evelyn erst mächtig überwinden muss, um aus dem Publikum auf die Bretter zu steigen, die die Welt bedeuten. Auch der Ahmad von Servan Durmaz scheint nicht immer genau zu wissen, was er eigentlich an diesem Ort zu suchen hat, und Christine Grant kracht als geflügelter Zephyr mit Getöse vom Himmel herab. Max Landgrebe verkörpert eine Art Mutter Erde, der es jedoch im luftigen Umfeld ebenfalls nicht wirklich gelingt, die Fäden zusammenlaufen zu lassen.
Nun ist das Ganze ja vor allem ein Liederabend. Die von Regisseurin Anja Herden getroffene Musikauswahl umfasst Roger Ciceros „Ich atme ein“ ebenso wie den Beatles-Song „Blackbird“ oder „Nel blu dipinto di blu“ von Domenico Modugno, besser bekannt als „Volare“. Als gewagt kann man ein Medley aus Peter Alexanders „Es liegt was in der Luft“ und „Schritt für Schritt ins Paradies“ von Ton Steine Scherben bezeichnen – aber gerade durch solch abstruse Kombinationen bekommt die Sache ja ihre Würze. Schwamm drüber, dass sich da ein Titel wie „I Put a Spell on You“ von Screamin’ Jay Hawkins thematisch genau genommen nur bedingt ins Geschehen einfügt.
Die Windstärken bei den Interpretationen wechseln: Mal wird gesäuselt, mal kräftig aufgedreht. Und die instrumentale Begleitung ist vom Allerfeinsten – viel Prominenteres als Keyboarder Lutz Krajenski, Gitarrist Dominik Decker, Bassist Christian Decker und Schlagzeuger Kristof Hinz wird sich in Hannover kaum finden lassen. Das von Kostümbildnerin Annabelle Gotha fein aufgebrezelte Quartett darf sich auch in der einen oder anderen Schauspielszene bewähren.
Das Konzept der Nummernrevue
Der Höhepunkt des Abends ist wohl der AC/DC-Titel „Thunderstruck“. Da lassen alle einschließlich der mittlerweile völlig enthemmten Evelyn die Sau raus und zeigen, was sie im Laufe eines Workshops bei der Hannoveranerin Aline Westphal gelernt haben, die 2011 in Finnland die Luftgitarren-Weltmeisterschaft gewann und bei der Premiere auch leibhaftig über die Bühne tobt. Die grenzwertige Peinlichkeit solchen Gebarens wird wissentlich und lustvoll ausgelotet.
Der Abend hat zudem subtile kleine Extravaganzen zu bieten, so erklingt das Schlagzeugsolo bei Phil Collins‘ „In The Air Tonight“ an der denkbar unpassendsten Stelle. Und doch bleibt eine große Frage offen: Ist nicht so etwas wie ein detailliert ausgefeilter dramaturgischer Überbau wünschenswert? Oder reicht es aus, wenn das Konzept einer Nummernrevue im Vordergrund steht? „Luft“ wirkt diesbezüglich recht unentschieden – die ohnehin etwas beliebig eingesetzten Textpassagen verlieren im Verlauf jedenfalls zunehmend an Bedeutung.
Dieses Problem hat allerdings unmittelbar mit dem Genre zu tun. Das sich zweifellos weiterentwickelt hat: Vor Jahrzehnten bedeuteten Liederabende im Theater nicht selten Pflichtübungen wie Brecht-Programme, bei denen hohe Sangeskunst nicht gefragt war und sogar eher hinderlich gewirkt hätte, während mittlerweile diesbezüglich einige Ansprüche an die Interpreten gestellt werden. Doch über den inneren Zusammenhalt konnte man in Hannover einst schon bei den kauzigen Liederabenden von Erik Gedeon diskutieren, Favorit von Intendant Ulrich Khuon. Dessen Nachfolger Wilfried Schulz wiederum präsentierte regelmäßig die griffigeren, aber ebenfalls eher willkürlich einem Thema untergeordneten musikalischen Inszenierungen von Franz Wittenbrink.
Das waren damals alles Publikumshits? Stimmt. Und „Luft“ wird auch einer. Überbau hin oder her.