Bedeutende Tänzer und Tänzerinnen, Festivals, Wettbewerbe und eine wachsende freie Szene: Hannover kann zu Recht als Tanzstadt gelten. Über die Geschichte des modernen Tanzes in der niedersächsischen Landeshauptstadt
Text: Jörg Worat Foto: Sophie Garcia
Ich erlebe Hannover als eine sehr gute, breit gefächerte Tanzstadt mit großem Potenzial“: Das sagt Marco Goecke, und das Urteil des Ballettdirektors an der Staatsoper ist von beträchtlichem Gewicht – 2021 wurde er von der Fachzeitschrift „Tanz“ zum „Choreographen des Jahres“ gewählt; erst vor wenigen Wochen hat er den Deutschen Tanzpreis 2022 erhalten. Wer zudem beobachtet, wie enthusiastisch das hannoversche Publikum auf zeitgenössische Choreographien zu reagieren pflegt, muss zu dem Schluss kommen, dass in dieser Stadt Bedeutendes auf diesem Gebiet geleistet wird – was durchaus Tradition hat.
Die Wurzeln des Ausdruckstanzes
Eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in der Entwicklung des modernen Tanzes stammt aus Hannover: die 1886 geborene Karoline Sofie Marie Wiegmann, besser bekannt als Mary Wigman. Sie stellte das expressive Element in den Vordergrund, statt vorgegebene Formen zu bedienen. Wigman unterrichtete unter anderem Yvonne Georgi und Harald Kreutzberg, womit die nächsten Berühmtheiten ins Spiel – und nach Hannover – kamen.
Georgi wirkte in den 20er- und 30er-Jahren an den Städtischen Bühnen und sorgte dafür, dass Kreutzberg, der seinerzeit als wichtigster männlicher Protagonist im modernen Tanz galt, mehrfach vor Ort als Interpret und Choreograph tätig war. Von 1954 bis 1970 kehrte Georgi als Ballettdirektorin ans Opernhaus zurück und war von 1959 bis 1973 zusätzlich Professorin an der Hochschule für Musik und Theater.
Wettbewerb und Festival
Und wie stellt sich die Lage inzwischen dar? Naheliegend ist es, die aktuelle Bestandsaufnahme mit dem Internationalen Choreographenwettbewerb zu beginnen, der in dieser Form weltweit einmalig ist. Seine 36. Ausgabe findet in diesem Sommer. Wie viel sich dabei getan hat, zeigt der Vergleich von der ersten Veranstaltung 1987 mit der bislang jüngsten: Gab es damals drei Preise, die nach Hannover, Hildesheim und Hamburg gingen, wurden nun deren elf vergeben. Die Gewinner kamen unter anderem aus China, Israel und Australien. „Früher hatten wir 80 bis 90 Bewerbungen“, sagt Birgit Grüßer, seit 21 Jahren Geschäftsführerin der Ballettgesellschaft Hannover und Organisationschefin des Wettbewerbs. „Zuletzt waren es rund 400, und immer mehr sind auch aus Asien und Afrika gekommen.“
2022 steigt die Zahl der Produktionspreise nochmals an. Damit erhaltene junge Choreographinnen und Choreographen die Möglichkeit, an bedeutenden Bühnen eigene Arbeiten zu entwickeln: „Dadurch entstehen Kontakte, die mindestens ebenso wichtig sind wie die Geldpreise“, betont Grüßer.
Eine weitere langjährige Tradition wird im Herbst zu Ende gehen: die des Festivals „TANZtheater INTERNATIONAL“. Festivalleiterin Christiane Winter, von Beginn an dabei, hat das Programm zunehmend in Richtung Internationalität und Tanz ausgerichtet: „Dabei habe ich manche Gruppen auch mehrfach eingeladen, weil es mir wichtig war, dass das Publikum Entwicklungen nachvollziehen konnte.“
Das Festival wird bald Geschichte sein, die Stadt arbeitet indes schon an der Nachfolge: „Allen Tanzbegeisterten in Hannover möchte ich versichern, dass es auch nach 2022 ein Tanzfestival geben soll“, sagt Kulturdezernentin Konstanze Beckedorf.
Neue Ideen
In den 80er-Jahren starteten verschiedene Initiativen der freien Szene. Britta Hoge betrieb ab 1986 das „Tanztheater im Hof“ und war von 2003 bis 2009 andernorts in Hannover unterwegs.
Die Gruppe „Commedia Futura“ begeht jetzt das 40-jährige Jubiläum: 1982 gründeten Wolfgang A. Piontek und Michael Habelitz, beide ursprünglich in der Bildenden Kunst verwurzelt, die Gruppe, die 1987 in die Südstädter „Eisfabrik“ einzog. Ein Jahr später wurde dort der „Schwarze Saal“ mit einer Performance von Ursula Wagner eingeweiht. Die 2013 verstorbene Tänzerin trat gern an ungewöhnlichen Orten wie in U-Bahn-Stationen und auf Hausdächern auf.
„Wir wollten von Anfang an verschiedene Kunstformen zusammenführen“, sagt Piontek. „Und alle Spielarten der Bewegung haben bei uns immer eine große Rolle gespielt.“ So fanden hier regelmäßig Aufführungen des japanischen Butoh-Tanzes statt. Zudem ist ein Festival im Angebot, seit 2017 bläst Commedia Futura zur „tanzOFFensive“. Und es gibt eine enge Zusammenarbeit mit dem international anerkannten Choreographen Felix Landerer.
Der meldet sich aus Kanada, wo er mit dem renommierten Ensemble Ballet BC arbeitet. Ist Hannover für ihn eine Tanzstadt? „Unbedingt. Ich empfinde das hannoversche Publikum als extrem aufgeschlossen und sehr interessiert an zeitgenössischem Tanz. Schön zu beobachten ist, dass sich die Szene und Menge an beteiligten Künstlern stetig vergrößert.“ Aber zu verbessern gibt es immer etwas: Landerer wünscht sich mehr Räumlichkeiten für sein Metier, am besten so etwas wie ein hannoversches Tanzhaus.
Immerhin – ein spezielles Zentrum befindet sich im Ahrbergviertel. Hans Fredeweß erarbeitet hier mit seiner Compagnie nicht nur eigene Stücke, sondern führt auch Schüler und Schülerinnen an den Tanz heran: „Uns geht es dabei nicht in erster Linie um ein Bewegungstraining. Die Kinder und Jugendlichen sollen echten Einblick bekommen, was es bedeutet, in einem professionellen Umfeld zu tanzen.“
Mittlerweile haben sich dort weitere Initiativen eingefunden: Der Verein „Tanzpunkt Hannover“ bietet Profitrainings, Workshops und Nachwuchsförderung an. Choreographin Mónica García Vicente ist mit eigenen Arbeiten mit von der Partie.
Das Staatsballett
Vicente tanzte von 2006 bis 2017 im Opernhaus – eine passende Überleitung zur neueren Geschichte des Staatsballetts. Von 1978 bis 1997 war Lothar Höfgen Ballettdirektor, kein wirklicher Revolutionär der Szene, aber doch mit einigen Impulsen, sei es durch die Einbindung internationaler Choreographinnen und Choreographen, sei es mit seinen damals durchaus aufsehenerregenden „Rock-Balletten“ wie „Warlock“.
Nach einer Übergangszeit mit Mehmet Balkan hatte es Stephan Thoss bei seinem Amtsantritt 2001 zunächst schwer: Das etablierte Opernpublikum zeigte sich durch einige als radikal empfundene Inszenierungen unter dem neuen Intendanten Albrecht Puhlmann irritiert. Mit den Arbeiten von Thoss konnte es ebenfalls wenig anfangen, obwohl sich dessen typische Spielart des Ausdruckstanzes zwar gewiss eigenwillig, aber keineswegs besonders bizarr darstellte.
Bald hatte der Ballettdirektor sein zu guten Teilen umgeschichtetes, umso enthusiastischeres Publikum gefunden und konnte erfreuliche Auslastungszahlen bei seinen Vorstellungen verzeichnen. Auf ihn folgte 2006 Jörg Mannes, der eine Verbindung von Tradition und Moderne pflegte, dabei das neoklassische Vokabular nicht verschmähte. Auch er hatte zahlreiche Fans.
Dass die hannoverschen Ballettbesucher im Opernhaus inzwischen mit Brüchen umgehen können, erwies sich schließlich 2019, als Goecke das Ruder übernahm. Marco Goeckes fiebrige Tanzsprache mit den zahlreichen Mini- und Mikrobewegungen, die seine Akteure oft sehr verletzlich erscheinen lässt, hat etwas ganz Eigenes. In Hannover rannte er damit offene Türen ein.
„Der Stilwechsel einer Ballettdirektion ist immer ein großer Umbruch, sowohl für das Publikum als auch für die Akteure auf der Bühne“, resümiert Marco Goecke. „Daher war ich positiv überrascht, wie gut ich hier aufgenommen wurde.“
Und vielleicht setzt sich die hannoversche Erfolgsgeschichte ja weiter fort: Kann der Ballettdirektor sich über den laufenden Vertrag bis 2024 hinaus einen längeren Verbleib in der Landeshauptstadt vorstellen? „Ja, selbstverständlich. Es ist eine Form der Sicherheit, mit Menschen zusammenzuarbeiten, die man schon so lange kennt. Wie eine Familie, für die man jeden Tag ins Theater kommt.“
Das ist ein schönes Bild. Und ein übergreifendes: Einmal mehr hat der moderne Tanz in Hannover offenbar so etwas wie eine Heimat gefunden.