Hoher Wiedererkennungswert: Die Hannoveranerin Sun-Rae Kim hat ihren ganz eigenen künstlerischen Kosmos geschaffen.
Text: Jörg Worat Fotos: Roland Schmidt
Wenn man das Atelier von Sun-Rae Kim betritt, ist der erste Eindruck: Überwältigung. Allein die Fülle der Objekte, die da Wand, Regal und Tisch bevölkern, fasziniert nachhaltig, und die Farbenpracht setzt noch eins drauf: Von edlen Silbertönen bis zu knalligstem Violett scheint hier das gesamte Spektrum vertreten. Die Formen wiederum haben durchweg etwas Organisches, oft mit floraler Anmutung, und dass dieses Wachsen und Gedeihen so bald kein Ende finden wird, beweist das halb fertige Gebilde neben der Heißklebepistole auf dem Arbeitstisch.
Willkommen im Reich der gebürtigen Südkoreanerin, die seit 1992 in Deutschland lebt und, das kann man in diesem Fall tatsächlich so sagen, eine eigene Kunstwelt geschaffen hat. Mit mehreren Ebenen und eine der ausgeprägtesten ist die „Seerosen“-Serie: „Ich hatte in Paris Arbeiten von Monet gesehen“, erzählt die Künstlerin. „Das war aber zehn Jahre her. Warum mir das Thema dann auf einmal wieder in den Sinn kam, weiß ich gar nicht so genau.“
Die kugligen Gebilde, die einzeln oder in mal mehr, mal weniger massiven Ballungen daherkommen können, haben einen speziellen Charme. Ihre äußerst natürliche Ausstrahlung ist umso bemerkenswerter, als die verwendeten Materialien keineswegs durchgehend den üblichen Vorstellungen von natürlichen Stoffen entsprechen: Neben Papier, Holz und Gummi ist da auch regelmäßig von PVC die Rede. Sun-Rae Kim verwandelt nämlich gern alltägliche Gebrauchsgegenstände wie Kunststoffschläuche oder Plastiktrinkhalme in etwas ungleich Ästhetischeres: „Wir sind immer auf der Suche nach neuen Materialien“, sagt Ehemann Bong-Kil, selbst Künstler und als eine Art Manager für die Gattin tätig. „Wenn andere sich vielleicht eine kleine Tüte davon einpacken lassen, nehmen wir gleich ganze Kisten mit.“ Die Kims bekennen lächelnd, dass sie im Einzelfall nicht einmal mehr genau rekonstruieren können, wofür das Material ursprünglich gedacht war: „Haben wir das hier nicht aus einem Laden für Floristenbedarf? Oder …“
Körperlose Kleider
Eine zweite wichtige Werkgruppe hat damit zu tun, dass bei der Betrachtung von Kunst oft das am spannendsten ist, was man NICHT sieht. Hier geht es um Kleidungsstücke, etwa Ganzkörper-Kapuzenanzüge, die als gesichtslose Figuren im Raum stehen. „Die habe ich nach der Geburt meiner Tochter Tscho-Young Nina entwickelt“, liefert die Künstlerin eine ebenso eigenwillige wie poetische Erklärung. „Ich habe mir vorgestellt, was für Freunde sie haben könnte, und weil ich ja nicht wusste, wie die aussehen würden, habe ich die Gesichter weggelassen.“ Logisch daher auch, dass die Gestalten geschlechtslos wirken und in verschiedenen Größen existieren – wächst die Tochter, wachsen eben auch die Freunde.
Diese Kleidung besteht aus Strohhalm-Schnipseln von schuppen- oder federartiger Anmutung, und erst bei genauem Hinsehen wird klar, dass eine solche Arbeit nicht nur äußerste Präzision erfordert, sondern auch unendliche Geduld – der Begriff „meditativ“ wird von Sun-Rae Kim umgehend akzeptiert. Zusätzlich verwendet die Künstlerin hier einen weit traditionelleren Werkstoff, nämlich Reispapier: „Es lässt sich gut verformen, ohne zu brechen.“ Es gibt auch kleine Kleiderobjekte, die aus diesem Papier, in anderen Fällen aus Ton bestehen – gemeinsam haben sie alle, dass man sich den dazugehörigen Körper vorstellen muss, die eigene Fantasie also entsprechend nachhaltig angeregt wird.
Frei statt formal
Ist somit das Werk dieser Künstlerin vollständig beschrieben? Natürlich nicht. Zur Sprache müssen zumindest noch die „Microfantasies“ kommen, kleinformatige Holzkacheln mit Mischtechniken unterschiedlichster Natur. Auch hier können Pflanzen- oder Kleidermotive auftauchen, ebenso aber Schmetterlinge oder abstrakte Strukturen: „In diesen Arbeiten kann ich viel ausprobieren“, sagt Sun-Rae Kim.
Eben diese Möglichkeit scheint ein Hauptgrund für die 1966 geborene Künstlerin gewesen zu sein, nach Deutschland zu kommen: „Das Studium in Korea war sehr formal, immer mit festen Vorgaben und ohne große Freiheiten. Zugleich war damals besonders viel deutsche Kunst bei uns zu sehen: Joseph Beuys, Jörg Immendorff oder Günther Uecker. Das hat in mir den Wunsch geweckt, in Deutschland weiterzustudieren.“ Ein wenig kurios wirkt es allerdings schon, dass Sun-Rae Kim an der Braunschweiger Kunsthochschule gerade in der Klasse von Malte Sartorius landete, bekannt für seine äußerst filigranen Zeichnungen und Radierungen: Abgesehen von der Sorgfalt im Detail haben Kims Arbeiten nicht sonderlich viel damit zu tun, und freimütig räumt sie ein, in diesem Umfeld doch eher als eine Außenseiterin gegolten zu haben.
Dieser Begriff passt vielleicht in einem anderen Zusammenhang auch im Hier und Jetzt. Denn zumindest in manchen Kreisen der aktuellen Kunstszene gilt das Attribut „schön“ als verpönt, ein Attribut, das indes bei diesen Arbeiten besonders gut zu passen scheint – sie sind dem Auge wohlgefällig und zugleich rätselhaft genug, um das Tor zu mannigfachen Assoziationen zu öffnen.
Doch, es tut sich eine Menge im Hainholzer Häuschen der Kims, das inzwischen sogar über eine kleine Schaufenster-Galerie verfügt. Und als gäb‘s in diesem Domizil nicht schon genug zu sehen, bahnt sich hier auch noch künstlerischer Zuwachs ganz anderer Natur an: Zwar studiert Tochter Tscho-Young Nina, die Anregerin der Kleiderserie, mittlerweile in Köln Medieninformatik und ist nicht mehr vor Ort, aber an den Wänden hängen einige Malereien ihrer 17-jährigen Schwester Tscho-Mi Marie. Die sind höchst interessant – wenn es so etwas wie ein Kreativ-Gen gibt, scheint es in der Familie Kim nachhaltig durchzuschlagen.