Alyssa N‘Diaye keucht noch nach ihrem Solo. Es dauert einige Sekunden, bis die 19-Jährige wieder ruhig atmen kann. Gerade hat sie eine atemberaubende Abfolge von Spreizsalti, Radschlägen und Schrauben hingelegt – immer auf einer Linie im Raum, das Publikum im Blick, ein Lächeln im Gesicht. Alyssa tanzt in der Gemischten Garde des Karnevalsvereins Lindener Narren – wie jeden Mittwoch. Insgesamt trainiert sie fast 20 Stunden in der Woche.
Es kommt immer wieder vor, dass der karnevalistische Tanz nicht ganz ernst genommen wird – ein bisschen Rumgehüpfe in glitzernden Kostümen, ein Spaßsport inmitten des karnevalistischen Treibens. Doch wer einmal ein Training einer Garde begleitet, hat die Gelegenheit, eine andere Perspektive einzunehmen.
„Das ist Hochleistungssport“, sagt Martina Höfler, die seit mehr als 40 Jahren Trainingsleiterin ist und mittlerweile ihre Tochter Ivka Höfler als Trainerin an ihrer Seite hat. „Unsere Tänzerinnen und Tänzer müssen topfit sein.“ Denn die körperliche Verfassung ist die Grundvoraussetzung für die anspruchsvollen Figuren und Choreografien im Gardetanz.
Der Gardetanz - Von klein Auf
Als Alyssa ihren Atem wiedererlangt hat, erzählt sie von ihrer Geschichte mit dem Gardetanz. Sie sitzt auf der
Bank vor einer langen Spiegelfront im Trainingssaal der Lindener Narren – der Narrhalla. Die Garde macht gerade
Stretchübungen, Spagat an der Wand, Rückenstreckung sowie Schmetterlingsdehnung, um keine Verletzungen zu
riskieren. Ihre Mutter sei schon Tänzerin bei den Narren gewesen, erzählt Alyssa. Und habe sie bereits mit zwei
Monaten angemeldet. Alyssa startete dann mit zwei Jahren bei den Minis. „Ich bin in diesen Räumen aufgewachsen, habe meine Freunde hier und viele schöne Erlebnisse gesammelt“, erzählt sie. Mit fünf Jahren war sie dann Funkenmariechen – eine hohe Auszeichnung im Karneval für besonders engagierte und talentierte Tänzerinnen.
Der Gardetanz hat eine lange Tradition im Karneval, seine Wurzeln liegen in den historischen Garden, die
ursprünglich die Prinzenpaare während der Karnevalssaison begleitet haben. Heute gehört der Gardetanz zu
den beliebtesten Formen des karnevalistischen Tanzes, bei dem sowohl Tanztechnik als auch Kondition gefragt
sind. Besonders faszinierend ist die Vielseitigkeit: Während das Training präzise Marschschritte und akrobatische Einlagen wie Radschlag, Spagat oder Schraube sowie spektakuläre Hebefiguren beinhaltet, wird stets
auf Synchronität und das Erreichen perfekter Linien geachtet. Hier treffen Akrobatikelemente auf Ballett- und
Cheerleading-Anteile. Und obwohl der Tanz mit seinen strengen Bewegungen militärischen Marschformationen
entlehnt ist, wirkt er dennoch elegant und tänzerisch.
Dreimal die Woche trainiert Alyssa N‘Diaye sechs Stunden – Zirkeltraining, Dehnung, Spagat, Beinübungen, damit die
Beine schwungvoll nach oben schnellen. Sie beherrscht alle Disziplinen: Tanzpaar, Garde, Schautanz, Tanzmariechen.
„Für mich war es immer das Tanzen“, sagt Alyssa, die an der Hochschule Hannover Sportjournalismus studiert und
Fußballberichterstatterin werden will. „Hier kann ich alles loslassen, und ich mag es zu gewinnen.“
Wettkampf und Hochleistungssport
Tatsächlich ist Gardetanz auch ein wettbewerbsorientierter Sport. Alyssa ist achtfache Niedersachsenmeisterin.
Gerade tanzt sich die Gemischte Garde der Lindener Narren warm für die Niedersachsenmeisterschaft am 23.
und 24. November in der Swiss Life Hall in Hannover. Das Turnier ist auch ein Qualifikationsturnier für das Norddeutsche Halbfinale. Wer hier weiterkommt, darf bei der Deutschen Meisterschaft mittanzen, die der Karnevalsverein im kommenden Jahr in der ZAG-Halle am 29. und 30. März ausrichtet. Ein großes Spektakel, bei dem rund 1.000 Tänzerinnen und Tänzer sowie rund 10.000 Zuschauer erwartet werden.
Hier einmal aufs Treppchen zu kommen – das ist das Ziel von Timon Weber. Der 22-Jährige hat mit sechs Jahren bei den Lindener Narren angefangen, ein Kindergartenfreund habe ihn mitgenommen. Timon fing Feuer und
blieb dabei. Der Vater habe anfangs noch Vorurteile gehabt: Ein frauendominierter Sport sei das. Er hatte Angst,
sein Sohn könne gemobbt werden. Aber diese Vorbehalte ließ er schnell los, als er sah, wie sein Sohn darin aufging.
„Viele denken, die Männer seien nur für die Hebefiguren verantwortlich“, sagt Timon. „Das stimmt aber nicht, die
Männer tanzen ganz normal mit.“
Text: Stefanie Nickel
Beitragsbild: Reiner Dröse