Zum Inhalt springen

Der einzig Wahre

30. Oktober 2024

Realität und Spiel – beides liegt oft sehr nah beieinander. So nah, dass manchmal die Grenzen verwischen und das Spiel ernst wird – so wie in der Oper „Der Bajazzo“ von Ruggero Leoncavallo. Sie hatte im Opernhaus Premiere.

Ein überwältigendes Spektakel der Emotionen

Das große Drama auf der hannoverschen Opernbühne dauert eine Stunde und 20 Minuten. Es gibt keine Pause. Atemlos geht es durch die Nacht, in der sich das ganz große Drama entwickelt. Lachen, weinen, Kränkungen. Seufzen, schluchzen, schreien, schmeicheln. Liebe, Betrug, Mord. Alles ist dabei in dieser großen, flirrenden Show voller Übertreibung – so, wie es die Darstellung auf der Bühne manchmal verlangt, wenn Colombina und Arleccino im Spiel sind. Denn übertreiben Clowns nicht immer ein wenig?

Verschmelzung von Bühne und Publikum: Ein Spiel mit den Rollen

Die Grenzen verwischen gleich zu Beginn der Oper: Das Publikum – in diesem Fall sind es die Mitglieder des Chors, die sich die Aufführung der Commedia-dell’arte-Gruppe auf der Bühne ansehen möchten, kommt durch die Zuschauereingänge und betritt das Bühnenbild von Ralf Käselau. Man sieht eine Art Zirkuszelt, das durch eine Lichterkette markiert wird. Allerdings sind im Hintergrund genau die charakteristischen Lampen des Opernhauses zu sehen, die auch vor den Rängen Licht in den echten Zuschauerraum bringen. Wer ist hier das Publikum? Wer sind die Mitspieler?

Das Verwirrspiel der Realität: Grenzen zwischen Spiel und Leben

In der Inszenierung von Dirk Schmeding verschwimmt immer wieder die Grenze zwischen Realität und Spiel. Beides geht fließend ineinander über. Doch nicht nur das Spiel zwischen dem „echten“ Publikum und dem gespielten auf der Bühne. Auch die Realität zwischen dem Stück, das auf der Bühne gespielt wird, und dem dort dargestellten „echten“ Leben. Es ist quasi ein Verwirrspiel hoch Drei, das dort zu sehen ist – und genau das macht es auch so interessant. Es ist so leicht und amüsant wie ergreifend und tiefsinnig zugleich, geht es letztendlich doch um eine der größten von allen Fragen, die das Theater stellen kann: Wie viel Realität steckt in jedem Spiel?

Nedda/Colombina: Das Herzstück des Spiels zwischen Liebe und Eifersucht

Dreh und Angelpunkt der Story ist eigentlich Nedda/Colombina (Barno Ismatullaeva). Sie spielt und sing, flirtet, geht fremd und will fliehen. Doch nur mit ihrem „richtigen“ Liebhaber Silvio, Darwin Prakash. Denn natürlich hat sie im Spiel auf der Bühne noch einen Kollegen, der dort ihren Liebhaber mimt: Peppe/Arlecchino (Pawel Brozek). Allein ihr eifersüchtiger Mann Canio/Pagliaccio (Viktor Antipenko) ist im Spiel wie im wahren Leben, der Clown, den alle zum Narren halten.

So wechselt Canio auch im Gegensatz zu allen anderen, die für ihre Bühnenrollen eigene Kostüme haben, nur einmal seinen grünen Pulli mit der gelben Blume. Pascal Seibicke hat allen Darstellern dieser Schauspielergruppe eigene Bühnenkostüme gegeben. Nur Canio nicht. Der Clown bleibt ein Clown. Egal in welchem Spiel.

Vorahnung des Unheils: Ein Leben voller Dramatik

„Der Autor wollte nicht weniger als ein Stück echten Lebens darbieten“, sagt Tonio (Daniel Scofield) bereits im Prolog zum Stück. Wer ihm genau zugehört hat, weiß schon von Anfang an, dass dieses Spiel in einem Drama enden wird. Es ist ein bisschen wie bei einem Krimi, bei dem man weiß, wer der Mörder ist, aber nicht, warum er zu einem wurde.

Ein unvergesslicher Abend: Theaterkunst zwischen Illusion und Realität

Das Opern-Team bietet an diesem Abend viel – auch, indem es genau das macht, was nur das Theater kann: Es bereitet dem Publikum eine wunderbare Mischung aus großartigen Sängern und einer satten Musik (Musikalische Leitung: Mario Hartmuth) in einer fantasievollen Inszenierung, die die Grenzen immer wieder verschwimmen lässt. Es macht nicht nur Spaß, mit dem Publikum hier wie dort dieses Stück zu erleben. „Der Bajazzo“ wird nachklingen, und auf feine, leise Art wird man sich fragen, wer der Clown im wirklichen Leben sein könnte.  Denn vielleicht ist er der einzig Wahre, der nie ein Kostüm trägt.

Text: Heike Schmidt
Fotos: Tim Müller/Oper Hannover

ÄHNLICHE ARTIKEL