Zum Inhalt springen

Nora und die Nebenrollen

16. Januar 2024

Es ist ein Gedankenspiel. Ein Gedankenspiel über ein Stück, das selbst zum Stück wird. Kann das gelingen? „Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“ von Sivan Ben Yishai hatte jetzt am Schauspielhaus Uraufführung. Die vielfach ausgezeichnete Dramatikerin hat dafür Henrik Ibsens „Nora oder ein Puppenheim“ zur Vorlage genommen und kräftig gegen den Strich gebürstet. Sie interessiert sich vor allem für die Nebenrollen, für diejenigen, die in Ibsens Stück wenig zu sagen haben. Für die Arbeitenden, die das Leben in Ibsens Herrenhaus am Laufen halten, selbst aber keine Rolle spielen.

140 Jahre Zeit

Und so hat „ein Paketbote“, der eigentlich nur „50 Öre“ sagt, durchaus mehr zu berichten – wie auch das Kindermädchen Anne-Marie (Irene Kugler), das als Arbeitsmigrantin zu Nora kam, oder Hausmädchen Helene (Nellie Fischer-Benson). Die Zuschauer erfahren ihre Geschichten. Es sind die Geschichten derjenigen, die sonst im Schatten stehen. Sie haben jetzt eine Bühne. Und sie nutzen sie. Schließlich hatten sie in diesem Gedankenspiel auch 140 Jahre Zeit dazu, selbstbewusst zu werden.

Weißer Feminismus

Nora hat sich ebenfalls entwickelt. Natürlich spielt sie noch immer die Hauptrolle. Doch im Laufe der Zeit hat sie ihr Dasein als Star des Stücks auch dazu genutzt, sich ein Vermögen auf Kosten der anderen aufzubauen. Sie trägt inzwischen das Schild des weißen Feminismus vor sich her, um sich entweder dahinter zu verstecken oder aggressive Angriffe zu fahren – ganz wie es ihr beliebt. Vordergründig ist sie ganz woke. Aber auf den zweiten Blick nutzt sie diesen Begriff aus ihrem eigenen, sehr privilegierten Herrenhaus-Dasein heraus nur, um ihren Standpunkt moralisch zu rechtfertigen und zu sichern.

Hausherr von einst

Großartig wie Birte Leest diese Nora zwischen einer Barbie im pinken Mantelkleid (Kostüme: Sophie Klenk-Wulff) und einem bissigen Luxus-Püppchen spielt. Von einem Moment zum anderen ist sie süß und sanft, um dann im nächsten gallig-giftig zu sein. Ihr Humor? Richtig böse. Ihr Gatte Thorvald (Cino Djavid) ist längst nicht mehr der Hausherr von einst – was er in einer Szene auch ziemlich bejammert. Eigentlich wolle man doch im Theater tolle Stücke von tollen Männern sehen. Tja, lange her. Man merkt ihm an, dass er weder mit dieser neuen Nora noch mit den gesprächigen Nebenrollen gut zurechtkommt.

Herrenhaus als Gerippe

„Da sind wir wieder“, sagt Noras Freundin Christine (Florence Adjidome) ganz zu Beginn des Stückes. Wieder und wieder haben sich die Figuren in Ibsens Text gefangen gesehen. Wieder und wieder haben sie dieselben Sätze gesagt. Nach 140 Jahren ist damit Schluss. Dank Sivan Ben Yishai haben auch die Nebenrollen eine Stimme erhalten. Was die Dramaturgin aber auch zeigt ist, dass sie sich trotz aller aufgestauter Wut aus den ihnen zugesprochenen Rollen nicht richtig lösen können. Alle kehren zurück ins Herrenhaus – auch wenn dies zum Schluss längst nur noch ein Gerippe aus Stahl (Bühne: Marie Bues) ist.

NORA ODER WIE MAN DAS HERRENHAUS KOMPOSTIERT von Sivan Ben Yishai REGIE Marie Bues

Mehr Kompost

Ja, das Haus steht für ein patriarchalisches System, das eben trotz aller Bemühungen noch vorhanden ist. In Gänze wird es nie zu Kompost, auch wenn man es sich noch so sehr wünschen mag. Zu Kompost können nur Dinge werden, die sich vollständig zersetzen. Bei Metallen dauert es Jahrhunderte. Also ist das Kompostieren des Herrenhauses unmöglich? Wahrscheinlich ja. Doch Teile können durchaus Nährboden für neue Aspekte eines alten Stoffes sein. Und da Kompost auch immer Dünger ist und das Wachstum neuer Pflanzen fördert, möchte man sich wünschen, mehr Kompost im Theater zu sehen.

Herzlicher Applaus

Dieses Stück nach Ibsen ist in der Regie von Marie Bues aber kein sauertöpfisches Moraltheater. Die Themen Diversität, Feminismus, Privilegien werden leicht und humorvoll verhandelt, ohne den ernsthaften Kern der Botschaft in Frage zu stellen. Situationskomik und Selbstironie tragen dazu bei. Eine Stunde 40 Minuten wird durchgespielt. Keine Pause. Am Ende: herzlicher, aber nicht überschwänglicher Applaus. Und Plakate, die die Schauspieler hochhalten: „Gegen den Hass“. Dem ist nichts hinzuzufügen.

„Nora oder wie man das Herrenhaus kompostiert“ wieder am 17. Januar sowie am 4., 10. und 23. Februar. Nähere Informationen unter Nora oder Wie man das Herrenhaus kompostiert – Staatstheater Hannover (staatstheater-hannover.de)

Text: Heike Schmidt, Bilder: Staatstheater Hannover

ÄHNLICHE ARTIKEL