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Titelbild Kriegsenkel

Kriegsenkel – Wenn Traumata vererbt werden

19. November 2020

Obwohl sie den letzten Krieg nicht miterlebt haben, können nachfolgende Generationen, die „Kriegsenkel“, an dessen Folgen leiden. Dass sich seelische Traumata vererben können, rückt zunehmend ins öffentliche Bewusstsein. Das Leibniz Kolleg Hannover greift das Thema mit Workshops und Seminaren auf.
Text: Beate Rossbach, Titelbild:  Jan Canty on Unsplash

Wenn die Dinge erst einmal zur Sprache kommen, werden tragische Geschichten erzählt. Da ist die Großmutter, die auf ihrer dunklen Reise in die Demenz von Albträumen gequält wird. Es sind Erinnerungen, die aus dem Unterbewusstsein emporsteigen. Sie war wieder auf der Flucht, musste in Scheunen und Ställen schlafen, auf Stroh und von Ratten geplagt.
Oder es gab die Tante, eine hochintelligente, berufstätige Frau, die Kunst, Literatur und Musik liebte. Sie hatte nie eine Beziehung, hat nie geheiratet und behandelte Männer immer ein wenig wie Menschen zweiter Klasse. Was hat sie als junges Mädchen wohl erlebt, in diesen letzten Kriegstagen, als es nur noch ums Überleben ging?
Dann wird über strenge Väter erzählt, die immer die äußere Form wahrten, wenig lachten und ihre Kinder nie in den Arm nahmen. Aber als alte Menschen im Seniorenheim begannen sie plötzlich zu weinen und über ihre Erlebnisse im Krieg erzählen. Kriegsteilnehmer und die Kriegskinder, geboren etwa zwischen 1925 und 1949, haben Schreckliches und Verstörendes erlebt. Sei es das unmittelbare Kampfgeschehen, die brutalen Begegnungen mit Gewalt und Tod oder den Verlust der Heimat. Dies hat sie alle mit Sicherheit für den Rest ihres Lebens geprägt.

Das Schweigen in den Familiender Kriegsenkel

In den letzten Jahren entwickelte sich mehr und mehr das Bewusstsein dafür, dass sich die Traumata aber auch auf nachfolgende Generationen übertragen können – auf die Kriegsenkel.  Doch wie kann es sein, dass Menschen, die erst Jahre nach Kriegsende geboren wurden – aufgewachsen in Friedenszeiten und relativer Sicherheit – dennoch die Traumata ihrer Eltern und Großeltern „erben“ können? Dass es so ist, dazu gibt es mittlerweile Erfahrungsberichte, Forschungen und Literatur. Ein wichtiger Grund, warum das Thema nicht viel früher bekannt und öffentlich wurde, ist das große Schweigen in den Familien und das Fehlen jeglicher Aufarbeitung der psychischen Verletzungen. Kriegsenkel kennen diese Sätze: „Das wollt ihr gar nicht wissen. Seid froh, dass ihr es nicht erleben musstet.“ Oder: „Schaut lieber nach vorne. Euch soll es doch einmal besser gehen.“
Es wurde wenig erzählt und nichts erklärt, sondern gern verdrängt, allerdings mit Folgen. Und wie geht man dann damit um, wenn die Senioren im Pflegeheim, meist im Zusammenhang mit zunehmender demenzieller Entwicklung, plötzlich Emotionen zulassen und verstörende Erinnerungen durchleben? Und auch ihre Kinder, die Kriegsenkel, fragen sich, welche Ursachen es für ihre eigenen merkwürdigen Eigenheiten gibt. Für unerklärliche Gefühlskälte oder Bindungsprobleme, für Ängste ohne ersichtlichen Grund, für die seelische Distanz zu den alten Eltern oder für das Gefühl, heimatlos und nirgendwo richtig zu Hause zu sein.

Der Geschäftsführer des Leibniz Kollegs Hannover, Detlef Wotschke, Bild: Leibniz Kolleg Hannover

Selbst ein Kriegsenkel

Detlef Wotschke, der Geschäftsführer des Leibniz Kollegs Hannover, ist Jahrgang 1966 und kann über eigene Erfahrungen berichten: „Auf das Thema der vererbten Traumata an die Kriegsenkel bin ich durch meinen Vater gestoßen. Er war Jahrgang 1933 und ist 2016 an Krebs verstorben. Ich habe ihn bis zu seinem Tod begleitet. In diesen letzten Lebenstagen habe ich meinen Vater ganz anders erlebt als zuvor. Er hat sich zu bestimmten Themen geöffnet, die vorher absolut tabu waren und nie erwähnt wurden, und ich habe ihn zum ersten Mal weinen sehen.“ Flucht, Heimatlosigkeit und der Verlust des Stiefbruders kamen da zur Sprache, und, so Detlef Wotschke, „das war völlig konträr zu dem Vater, den ich kannte, der starken Persönlichkeit, die zwar liebenswürdig war, aber Autorität und Strenge ausstrahlte. Erst da wurde mir klar, welche Traumata mein Vater sein Leben lang mit sich herumgeschleppt hatte.“
Detlef Wotschke sagt, er selbst habe sich in bestimmten Situationen seines eigenen Lebens, zum Beispiel in Prüfungssituationen oder als er einen schweren Unfall hatte, eine stärkere emotionale Unterstützung des Vaters gewünscht, sie jedoch nicht erhalten. Mitgefühl statt Reserviertheit und nur beschwichtigende Worte. „Du schaffst das schon, das wird schon“, hieß es dann immer.
Schon immer war ihm klar, sagt Detlef Wotschke, dass die deutsche Geschichte eng mit der persönlichen Familiengeschichte verbunden ist. „Wie das jedoch zusammenhängt, habe ich erst durch die Ereignisse dieser letzten Tage begriffen und auch, was das mit mir selbst gemacht hat.“

Trauerbegleiter Andreas Süskow, Foto: Privat

Parallelen zur Trauerarbeit

Am Leibniz Kolleg wurden damals Seminare von Trauerbegleiter Andreas Süskow angeboten. Detlef Wotschke und der Dozent kamen intensiv ins Gespräch, „denn ich wollte meine eigene Trauer verarbeiten“, so Wotschke. Nach und nach entstanden so die Idee und detaillierte Konzepte für eigene Seminare zum Thema Kriegsenkel und die von Generation zu Generation vererbte Seelennot. „Das Thema hat uns nicht mehr losgelassen.“
Warum werden die Kurse von einem Trauerbegleiter und nicht von Psychologen durchgeführt? „Es geht hier nicht um Traumaforschung, und Menschen, die psychologische Hilfe benötigen, würden wir weiterschicken“, antwortet Detlef Wotschke. Dozent Andreas Süskow ergänzt. „Ich bin selbst betroffen, über beide Elternteile, und aus meiner praktischen Erfahrung habe ich gelernt, dass die Begegnung mit vererbten Traumata viel Ähnlichkeit mit Trauerarbeit hat. Es gibt Parallelen zur Sterbebegleitung traumatisierter Menschen, die sich in der Palliativphase befinden. Und es geht immer um die Anerkennung von Leid, um Gefühle, die ernst genommen werden müssen.“

Titelbild: Jan Canty on Unsplash; Detlef Wotschke Leibniz Kolleg Hannover; Andreas Süskow von Privat;

Die Veranstaltungen, die ein- bis mehrtägig aufgebaut sind, gehen nach und nach in die Tiefe. Der Fokus liegt darauf, Traumata besser zu erkennen, die eigene Emotionalität einzuordnen und mögliche Ansätze der heilsamen Betreuung aufzuzeigen – für Trauer- und Sterbebegleiter sowie Therapeuten und Pflegekräfte betroffener Kriegskinder und Kriegsenkel.
Weitere Infos unter www.leibnizkolleghannover.de

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