Verrückt: Ein Gespräch mit Lena Kußmann, künstlerische Leitung des Glocksee-Theater, zeigt: Grenzen zwischen Theaterinszenierungen und Wirklichkeit sind bei ihr fließend.
Text: Jörg Worat
Vorstellungen für einen Zuschauer? Ein zehnteiliges Pflanzenprojekt? Eine Titanik-Version am Ihme-Zentrum? Wer glaubt, er habe in Sachen Theater schon alles erlebt, kann sich durch Lena Kußmann eines Besseren belehren lassen – Mangel an Fantasie gehört sicherlich nicht zu den Eigenarten dieser vielseitigen Regisseurin, Schauspielerin und Dramaturgin.
Die 40-Jährige hat zusammen mit Jonas Vietzke und Milena Fischer die künstlerische Leitung des Theaters an der Glocksee inne. An dieser traditionsreichen freien Bühne ist man seit jeher auf der Suche nach neuen Ausdrucksformen und bindet immer wieder das Publikum ins Geschehen ein.
Kußmann hat schon bei ihrem Hannover-Debüt die Stadt gleichsam im Sturm erobert: Als sie 2012 zusammen mit Glocksee-Gründungsmitglied Helga Lauenstein und Vietzke „Lassen Sie mich durch, ich bin Arzt“ von Tusal Moul spielte, wurde sie im Jahrbuch der Zeitschrift „Theater Heute“ in der Kategorie „Beste Darstellerin“ gelistet – das ist so etwas wie ein Ritterschlag der Szene.
Nun, acht Jahre später, steht das besagte Pflanzenprojekt namens „Plantkingdom“ im Mittelpunkt. „Menschen“, sagt Kußmann, „sind nicht die einzigen Bewohner auf diesem Planeten. Pflanzen gibt es schon wesentlich länger, und mir ist aufgefallen, dass sie im Theater eigentlich kaum einmal eine Rolle spielen. Wie können wir mit ihnen in Kontakt treten? Können wir sogar etwas von den Pflanzen lernen?“
Und wer wäre besser geeignet, solche Fragen zu untersuchen, als die Theatermacherin, die vor ihrem Abschluss an der privaten Hamburger Schauspielschule Frese ein Vordiplom im Fach Biologie erworben hat und nun wieder im Austausch mit Botanikern der Leibniz Universität steht.
Theater an der Glocksee – Nah am Publikum
Der Auftakt der Reihe hieß „Connection“ und band, wiewohl die Idee dafür schon lange vor der Corona-Krise entstand, auf schlüssige Weise die aktuelle Situation ein. Jeweils ein einziger Besucher verfolgte dabei Kußmanns stummes Spiel – sie trug eine Atemmaske, die mit einer echten Pflanze verbunden war, und stellte eine Astronautin auf einer nicht klar definierten Reise dar. Per Videoeinspielung kam die sprachliche Ebene in Gestalt von Reflexionen über die Welt der Flora hinzu, und zum Abschluss begegnete man der Pflanze selbst. In ganz außergewöhnlicher Form: „Ich habe ein Computerprogramm entdeckt“, sagt Kußmann, „mit dem man die akustischen Signale, die Pflanzen aussenden, für das menschliche Ohr erfahrbar machen kann.“
Klingt spannend? Das fand auch das Team der KunstFestSpiele Herrenhausen, das für die in den Herbst verschobene Ausgabe des hochkarätigen Festivals den vierten Projektteil namens „No Border Plants“ eingeladen hat. „Das soll eine Art Prozession sein“, verrät Kußmann. „Ein mobiler Gewächshauswagen wird von einem Performance-Sextett durch die Straßen bewegt. Die Besucher können sich anschließen, als wären sie Mitglieder einer Pflanzen-Sekte.“
Da haben wir sie ja schon, die Publikumsbeteiligung. Die kann durchaus auch im Theaterinneren stattfinden: „Ich liebe es, neue Räume nicht nur für die Darsteller, sondern auch für die Zuschauer zu entwickeln“, sagt Kußmann.
Das war etwa bei ihrer ersten eigenen Glocksee-Regiearbeit angesagt: Janne Tellers Gedankenexperiment „Krieg. Stell dir vor, er wäre hier“ handelt davon, dass die Deutschen in Umkehrung der tatsächlichen Verhältnisse nach Afrika oder in den Nahen Osten fliehen müssten – folgerichtig fanden sich die Besucher, von ihren säuberlich nummerierten Sitzen vertrieben, irgendwann auf sandigem Untergrund wieder.
In „Hannah und der Punk“ treffen
Hannah Arendts Texte auf die Emotionalität einer politischen Punkband.
Lena Kussmann: Kunst und Leben
Und wenn es nach draußen geht, weichen die Grenzen naturgemäß noch mehr auf. Eine Projektreihe mit dem schönen Titel „Das wundersame Aktionsbündnis der Tante Trottoir“ pflegt die muntere Anarchie. So mussten die Passanten bei einer durchgeknallten Version der „Titanic“-Story vor und auf der Ihme, laut Kußmann eine „Kamikaze-Inszenierung“, zwar auf Kate Winslet und Leonardo DiCaprio verzichten, bekamen dafür aber um so mehr schrägen Humor geboten.
Hinter ebendem kann sich ja auch große Ernsthaftigkeit verbergen: Als die Tante Trottoir 2015 am Steintor zur „Demo der Verwirrten“ bat, bei der es Schilder mit kryptischen Aufschriften wie „Macht doch nix“ oder „Menno“ herumzutragen galt, spiegelte die Aktion die verbreitete Unsicherheit über die Frage, wer inzwischen eigentlich mit welchen Mitteln und unter welchem Namen für was auf die Straße geht.
Die speziellen Qualitäten von Kußmanns Wirken sind nicht verborgen geblieben. So ist sie Mitglied des Kulturrats, der die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2025 begleitet. Bei der erfolgreichen Vorstellung des künstlerisch gestalteten Bid Books in Berlin übernahm sie die Inszenierung und übte unter anderem mit Kulturdezernentin Konstanze Beckedorf und Oberbürgermeister Belit Onay ein, wie man sich und seine Sache eindringlich präsentieren kann.
Im Gespräch fällt auf, dass die Trennungslinie zwischen Kunst und Leben für Kußmann offenbar schmal ist. Die Arbeit am Theater wird somit auch stets zur Arbeit an der eigenen Person, wie sich etwa in der Beziehung zu Jonas Vietzke zeigt, mit dem die Künstlerin seit zehn Jahren liiert ist und den sie 2019 geheiratet hat: „Ich hatte riesigen Respekt vor der Aufgabe, dass wir gemeinsam dieses Theater leiten, und es gab eine Zeit, in der unsere Beziehung daran fast zerbrochen wäre. Aber inzwischen ergänzen wir uns hervorragend, haben herausgefunden, dass wir oft die gleichen Ziele haben, nur die Wege dorthin unterscheiden sich. Als ich etwa bei den Proben zu ,Connection‘ total in eine Sackgasse geraten bin, wusste Jonas sofort, wie ich dort wieder herauskomme.“
Unter dem Strich wird deutlich, dass hier offenbar jemand den eigenen Weg gefunden hat: „Ich kenne viele Ängste und Unsicherheiten. Aber über die Kunst kann ich immer wieder Türen von mir zu den Menschen und zwischen den Menschen schaffen. Dadurch werden neue Begegnungen möglich, und bestenfalls vertrauen wir so einander mehr.“